Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
I. Prolog
Am 10. Dezember 1901 traf in einem kleinen Ort über dem Bodensee im Schweizer Kanton Appenzell-Ausserrhoden ein Telegramm mit folgendem Wortlaut ein: «An Henry Dunant, Heiden. Das Nobelkomitee des norwegischen Parlaments hat die Ehre, Ihnen mitzuteilen, dass es den Friedensnobelpreis 1901 je zur Hälfte an Sie, Henry Dunant, und an Frédéric Passy verliehen hat. Das Komitee sendet seine Ehrerbietung und seine aufrichtigen Wünsche.»
Der ehrfurchtsvoll als «Apostel des Friedens» titulierte französische Parlamentarier und Humanist Passy hatte sein ganzes Leben der Förderung des Friedens und der friedlichen Beilegung von Konflikten gewidmet. Kein Zweifel: Im Sinne des testamentarischen Willens von Alfred Nobel war er damit ganz sicher ein würdiger Träger dieses höchstdotierten Friedenspreises, der in jenem Jahr zum ersten Mal überhaupt verliehen wurde. Aber Henry Dunant? War das nicht der inzwischen 73 Jahre alte, von Gläubigern verfolgte, weitgehend vergessene und wohl auch ein wenig verbitterte Geschäftsmann, der fast 40 Jahre zuvor mit einigen Gleichgesinnten in Genf eine «Hilfsgesellschaft für Verwundete» ins Leben gerufen hatte? Zugegeben, dieser privaten Initiative, die sich alsbald mit dem Zeichen des Roten Kreuzes schmücken sollte, war ein unerwartet großer Erfolg beschieden. Und erfolgreich waren auch die rasch einsetzenden Bemühungen, dem Krieg durch ein immer dichteres Netzwerk von Institutionen und Regeln zumindest einen Teil seines Schreckens zu nehmen, ihn mit anderen Worten ein wenig zu «humanisieren». Indes, den Krieg grundsätzlich in Frage gestellt hatten Dunant und sein kleiner Kreis illustrer Mitstreiter aus dem großbürgerlich-protestantischen Milieu der stolzen Kaufmannsstadt im südwestlichen Zipfel der Schweiz nicht. Schlimmer noch, diese Bewegung machte bei ihrer Tätigkeit «im Dienste der Menschlichkeit»keinen Unterschied zwischen guten und schlechten, gerechten und ungerechten Kriegen, zwischen schuldigen Aggressoren und unschuldigen Opfern. Ermunterte die Arbeit einer Bewegung, die Hand in Hand mit den Regierungen und ohne jede moralische oder rechtliche Wertung (nur) die gröbsten Exzesse des Krieges zu mildern suchte, die Staaten denn nicht geradezu, den Krieg auch wirklich einzusetzen – als «legitimes Mittel der Politik, mit dem man letzte und auch vorletzte Ziele notfalls durchzusetzen suchte» (Th. Nipperdey)? So lautete damals die etwa von der österreichischen Pazifistin Bertha von Suttner («Die Waffen nieder!») vorgebrachte und bis heute nicht gänzlich verstummte Kritik. Die seit ihrem Einsatz im Krimkrieg (1854/56) in ganz Europa als moralische Autorität anerkannte und auch von Henry Dunant selbst hoch geschätzte britische Krankenschwester Florence Nightingale hatte ebenfalls gemahnt: «… [W]enn man diesen Regierungen diese Verantwortung abnimmt […] so hieße das, ihnen größere Möglichkeiten zu geben, neue Kriege zu entfachen.» Kein Wunder jedenfalls, dass die Arbeit des Roten Kreuzes – anders als diejenige der «echten» Friedensaktivisten – von Anfang an auch bei den Staaten auf ein so großes Wohlwollen traf.
Niemand hat wohl mehr unter diesem Dilemma gelitten als die Protagonisten dieser großen humanitären Weltbewegung selbst, einer Bewegung die heute weltweit über 100 Millionen Mitglieder umfasst: Denn natürlich, trotz aller Bemühungen um eine Humanisierung der Kriegführung, Krieg ist und bleibt furchtbares Leiden, Krieg ist und bleibt Tod und Verwüstung. Im Krieg ist es, wo der Mensch seine zivilisatorische Maske fallen lässt, und der Krieg ist es, der 200 Jahre zuvor das Anschauungsmaterial für das pessimistische Menschenbild des englischen Staatstheoretikers und Philosophen Thomas Hobbes geliefert hatte: «Homo homini lupus est» (Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf). Wer wüsste dies besser als diejenigen, die seit nunmehr 150 Jahren unter dem Zeichen des Roten Kreuzes (und später auch des Roten Halbmondes) unmittelbar mit dem Grauen dieses zivilisatorischen Ausnahmezustandes konfrontiert sind? Aus dem Fenster der Bibliothek des InternationalenKomitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf, in der ich diese Zeilen schreibe, blicke ich auf die große Rotkreuzflagge. Sie hängt wieder einmal auf Halbmast, denn erneut ist bei einem humanitären Einsatz ein unbewaffneter und deutlich als neutraler Helfer gekennzeichneter IKRK-Delegierter auf grausame Weise ermordet worden.
Aber darf man den Menschen, das einzelne
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