Lady Lavinias Liebestraum
1. KAPITEL
D ie riesige Leinwand lehnte an der freien Wand des Ballsaales von Stanmore House, der Londoner Stadtresidenz des Duke of Loscoe. Das beinahe noch größere Stück Segeltuch, das unter ihr ausgebreitet war, um den wertvollen Parkettboden zu schützen, wies unzählige bunte Kleckse auf. Auf dem kleinen Arbeitstisch gleich linker Hand lag ein vielfältiges Sortiment an Pinseln und kleinen Putzlappen. Daneben stand ein Glas Wasser.
In eine Schürze gehüllt, die ihr leichtes, duftiges Baumwollkleid vor Farbsprenkeln schützte, trat Lady Lavinia Stanmore ein paar Schritte zurück und begutachtete ihr Werk, das nur aus einiger Entfernung betrachtet zur vollen Geltung kam. Eine märchenhafte, in großzügigen Pinselstrichen gehaltene lichte Waldlandschaft mit knorrigen alten Bäumen, um die sich Akelei wand und in deren Mitte sich auf einer Blumenwiese ein halbes Dutzend Hasen tummelte, erstreckte sich vor ihr.
“Gütiger Himmel, Lavinia! Mir ist zwar nicht entgangen, dass du eine Vorliebe für großformatige Gemälde hast, doch dieses hier kann ohne Übertreibung als monumental bezeichnet werden.”
Lavinia wandte sich zu dem aufmerksam das Bild studierenden Gentleman um, der sich lässig an den Türrahmen gelehnt hatte. Seine elegante Erscheinung, die nicht nur durch den aus feinster Wolle angefertigten grünen Mantel, die auf Hochglanz polierten Stiefel und das akkurat gebundene Krawattentuch zutage trat, sondern ebenso durch sein perfekt frisiertes blondes Haar, ließ keinen Zweifel daran, dass James, Earl of Corringham, ein Mann von Welt war.
“Ach du bist es, James.”
Der Ankömmling grinste die junge Dame mit humorvollen grauen Augen an. “Hast du jemand anderen erwartet?”
“Ich habe eigentlich niemanden erwartet.”
Er kam einige Schritte auf sie zu, um ihr Werk näher in Augenschein zu nehmen. “Wo, um Himmels willen, gedenkst du es aufzuhängen? Obwohl dieses Haus wahrlich nicht zu den kleinsten zählt, fällt mir kein Ort ein, an dem dieses monströse Gemälde gut aufgehoben wäre.”
“Es ist nicht monströs!”, protestierte Lavinia.
“Ich bitte um Verzeihung. Ich wollte damit nicht andeuten, dass ich es nicht für gelungen halte, sondern lediglich zum Ausdruck bringen, dass es ungewöhnlich groß ist”, verbesserte James sich eilig, denn es lag ihm fern, die temperamentvolle junge Frau zu erzürnen.
“Es muss so groß sein, denn es ist ein Bühnenbild.”
“Ich verstehe.”
“Eine Kulisse für ‘Ein Sommernachtstraum’, um genau zu sein.”
“Ach ja? Erzähl mir mehr darüber.”
James interessierten weniger die Details über die Entstehung des Werkes; er genoss es vielmehr, die junge Malerin einfach nur anzuschauen und ihre Stimme zu hören, während er ihren Ausführungen lauschte. Er liebte den Glanz ihrer grünen Augen, wenn sie über etwas berichtete, das sie begeisterte. Er liebte diese seidigen kastanienbraunen Locken, die ihren schlanken Hals umspielten, und er fand die Art, wie sie sich gab, diese natürliche Grazie, die sie ausstrahlte und die nichts mit ihrer aristokratischen Herkunft zu tun hatte, unwiderstehlich. Er mochte schlicht alles an ihr. Umso bedauerlicher war es, dass Lavinia nur einen älteren Bruder in ihm sah und nicht, wie jede Mutter des
ton
, einen akzeptablen, heiratswilligen Junggesellen.
Dabei waren sie nicht einmal entfernt miteinander verwandt; dass sie gewissermaßen einer Familie angehörten, war dem Umstand geschuldet, dass seine Stiefmutter vor ein paar Jahren Lavinias Vater, den Duke of Loscoe, geheiratet hatte. James hatte seitdem genügend Abstand gewonnen, um sich einzugestehen, bereits bei ihrer ersten Begegnung sein Herz an die junge Frau verloren zu haben. Damals war sie ein temperamentvolles und eigenwilliges sechzehnjähriges Mädchen gewesen, das, frisch vom Lande gekommen, gerade die Vorzüge Londons herauszufinden begann, noch nicht in die Gesellschaft eingeführt worden war und nicht im Entferntesten an eine Vermählung dachte. Als im darauffolgenden Jahr der Duke seine Stiefmutter zum Traualtar geführt hatte, war es für James zunächst einfacher gewesen, Lavinia als seine Schwester anzusehen. Und so hatte sich eine geschwisterliche Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, die es ihm, wie er hatte feststellen müssen, nun überaus schwer machte, Lavinia seine wahren Gefühle zu gestehen.
“Ich will ein Theaterstück auf die Beine stellen, um für Mamas Waisenhaus Geld zu sammeln”, erklärte sie freudig erregt.
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