Das rote Notizbuch
Privatsammlungen und Museen überall auf der Welt verstreut waren, brauchte F. mehrere Jahre, um die Ausstellung vorzubereiten. Am Ende fehlte ein einziges Werk, das einfach nicht aufzutreibenwar – ausgerechnet ein ganz besonders wichtiges, das das Zentrum der gesamten Ausstellung bildete. F. hatte den Besitzer nicht ermitteln können, er hatte keine Ahnung, wo es sein könnte, und ohne dieses Gemälde wären die jahrelangen Reisen und all die sorgfältige Arbeit umsonst gewesen. In den nächsten sechs Monaten widmete er sich ausschließlich der Suche nach diesem einen Bild, und als er es dann schließlich aufspürte, mußte er feststellen, daß es die ganze Zeit über nur wenige Meter von ihm entfernt gewesen war. Es war im Besitz einer Frau, die in einem Apartment des Carlyle Hotels wohnte. Das Carlyle war F.s Lieblingshotel, in dem er jedesmal abstieg, wenn er nach New York kam. Mehr noch: Das Apartment dieser Frau lag direkt über dem Zimmer, das F. sich immer geben ließ – nur eine Etage höher. Wenn F. also im Carlyle Hotel zu Bett gegangen war und sich fragte, wo das fehlende Bild wohl sein mochte, hatte es unmittelbar über seinem Kopf an der Wand gehangen. Wie ein Bild aus einem Traum.
Ich habe diesen Absatz im vorigen Oktober geschrieben. Einige Tage später rief mich ein Freund aus Boston an und erzählte, wie schlecht es einem seiner Bekannten gehe. Der Mann ist Dichter, übersechzig Jahre alt und hat sein Leben am äußeren Rand des literarischen Sonnensystems verbracht – als einziger Bewohner eines Asteroiden, der einen tertiären Mond des Pluto umkreist, sichtbar nur durch die stärksten Teleskope. Ich kenne ihn nicht persönlich, habe aber seine Bücher gelesen und mir immer vorgestellt, daß er auf seinem Miniplaneten das Dasein eines modernen kleinen Prinzen führt.
Mein Freund erzählte mir, der Dichter habe gesundheitliche Probleme. Die Kosten für die Behandlung seiner Krankheit überstiegen seine Möglichkeiten, und nun drohe er aus seiner Wohnung geworfen zu werden. Um das nötige Bargeld aufzutreiben, das dem Dichter aus seinen Schwierigkeiten helfen könnte, war mein Freund auf die Idee gekommen, ihm zu Ehren ein Buch herauszugeben. Er wollte einige Dutzend Dichter und Schriftsteller um Beiträge bitten und diese zu einem attraktiven Band mit limitierter Auflage zusammenfassen, der nur durch Subskription erhältlich sein sollte. Er nahm an, es gebe genug Büchersammler im Land, so daß ein anständiger Gewinn dabei herauskommen müßte. Das Geld sollte dem kranken und notleidenden Dichter zur Verfügung gestellt werden.
Als er mich fragte, ob ich irgendwo ein paar Seiten herumliegen habe, die ich ihm überlassen könnte, erwähnte ich die kleine Geschichte, die ich geradeüber meinen französischen Freund und das fehlende Bild geschrieben hatte. Ich faxte sie ihm noch am selben Vormittag zu, und wenige Stunden später rief er zurück und sagte, die Geschichte gefalle ihm und er wolle sie in das Buch aufnehmen. Ich freute mich, daß ich meinen kleinen Beitrag geleistet hatte, und kaum war die Sache erledigt, hatte ich sie auch schon vergessen.
Vor zwei Tagen (am 31. Januar 2000) saß ich abends mit meiner zwölfjährigen Tochter am Tisch im Eßzimmer unseres Hauses in Brooklyn und half ihr bei Mathe – eine ellenlange Liste von Aufgaben, bei denen es um negative und positive Zahlen ging. Meine Tochter hat an Mathe kein sonderliches Interesse, und als wir fertig damit waren, die Subtraktionen in Additionen und die negativen Zahlen in positive umzuwandeln, unterhielten wir uns über ein Konzert, das vor ein paar Tagen an ihrer Schule stattgefunden hatte. Sie hatte dort einen alten Song von Roberta Flack gesungen,
The First Time Ever I Saw Your Face,
und jetzt suchte sie nach einem anderen Song, den sie für das Frühjahrskonzert üben wollte. Wir überlegten hin und her und fanden schließlich beide, daß sie diesmal etwas Lebhaftes und Schnelleres singen sollte, nicht so eine langsame und wehmütige Ballade wie die, die sie gerade aufgeführt hatte. Plötzlich sprang sie von ihrem Stuhlauf und sang aus voller Brust
It don’t mean a thing if it ain’t got that swing.
Ich weiß, Eltern übertreiben gern, wenn es um die Talente ihrer Kinder geht, aber für mich stand außer Frage, daß sie diesen Song auf ganz bemerkenswerte Art zum Vortrag brachte. Sie tanzte auch dazu, und während die Melodie aus ihr hervorströmte, gelangen ihr Töne wie selten zuvor, und da ihr auch selbst
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