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Das rote Notizbuch

Das rote Notizbuch

Titel: Das rote Notizbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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eingezogen waren – ein muffiges Überbleibsel aus dem vorigen Sommer. L. und ich hielten den ganzen Vormittag und noch etwas länger aus, aber um halb drei obsiegte der Hunger, und so gingen wir in die Küche, um unsere letzte Mahlzeit zuzubereiten. In Anbetracht der wenigen vorhandenen Zutaten war ein Zwiebelkuchen das einzige, was sich machen ließ.
    Als wir glaubten, unsere Kreation sei lange genug im Backofen gewesen, holten wir sie heraus, stelltensie auf den Tisch und machten uns darüber her. Wider Erwarten fanden wir sie beide köstlich. Ich glaube, wir gingen sogar so weit, sie als das Schmackhafteste zu bezeichnen, was wir je gegessen hatten; aber das war zweifellos nur ein Trick, ein halbherziger Versuch, uns bei Laune zu halten. Aber nach einigen weiteren Bissen stellte sich Enttäuschung ein. Schweren, sehr schweren Herzens mußten wir uns eingestehen, daß der Kuchen noch nicht ganz durchgebacken, daß er in der Mitte noch viel zu kalt war. Es blieb uns nichts anderes übrig, als ihn noch einmal für zehn oder fünfzehn Minuten in den Ofen zu tun. Angesichts unseres Hungers und der Tatsache, daß unsere Speicheldrüsen gerade erst aktiviert worden waren, fiel es nicht leicht, mit dem Essen aufzuhören.
    Um unsere Ungeduld zu zügeln, unternahmen wir einen kurzen Spaziergang, denn wir meinten, draußen, weg von dem köstlichen Duft in der Küche, würde die Zeit schneller vergehen. Wie ich es in Erinnerung habe, gingen wir einmal ums Haus, vielleicht auch zweimal. Vielleicht kamen wir auf irgendein interessantes Thema zu sprechen (ich kann mich nicht erinnern), aber wie es auch geschah, wie lange wir auch weg waren, als wir ins Haus zurückkehrten, war die Küche voller Rauch. Wir stürzten zum Backofen und holten den Kuchen heraus, aberzu spät. Unser Essen war hinüber. Es war zu einer schwarz verkohlten Masse verbrannt, von der kein Bissen mehr zu retten war.
    Heute klingt das wie eine komische Geschichte, aber damals war es alles andere als komisch. Wir waren in ein dunkles Loch gefallen, und keiner von uns konnte sich vorstellen, wie wir wieder herauskommen sollten. In all den Jahren, die ich darum kämpfte, ein Mensch zu sein, dürfte es keinen Augenblick gegeben haben, in dem mir weniger nach Lachen oder Scherzen zumute war. Wir waren wirklich am Ende, in einer furchtbaren, beängstigenden Situation.
    Das war um vier Uhr nachmittags. Keine Stunde später hielt, eine Staubwolke aufwirbelnd, Sand und Kies unter den Reifen zermalmend, der nomadische Mr.   Sugar vor unserem Haus. Wenn ich mich stark genug konzentriere, sehe ich noch immer das naive, alberne Lächeln auf seinem Gesicht, mit dem er aus dem Wagen sprang und hallo sagte. Es war ein Wunder. Es war ein echtes Wunder, und ich habe es mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leib erlebt. Bis dahin hatte ich immer gedacht, so etwas passiere nur in Büchern.
    Sugar spendierte uns an diesem Abend ein Essen in einem Zweisternerestaurant. Wir aßen reichlich und gut, wir leerten mehrere Flaschen Wein, wirlachten uns schief und krumm. Aber so köstlich das Essen auch gewesen sein mag, ich kann mich an nichts davon erinnern. Nur den Geschmack des Zwiebelkuchens habe ich nie vergessen.

3
    Kurz nach meiner Rückkehr nach New York (Juli 1974) erzählte mir ein Freund die folgende Geschichte. Sie spielt in Jugoslawien, offenbar in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs.
    S.s Onkel gehörte zu einer serbischen Partisanengruppe, die gegen die Nazi-Besatzer kämpfte. Eines Morgens wachten er und seine Kameraden auf und fanden sich von deutschen Truppen umzingelt. Sie hatten sich in einem Bauernhaus irgendwo auf dem Lande verschanzt, es lag fast ein halber Meter Schnee, an Flucht war nicht zu denken. Da ihnen nichts Besseres einfiel, beschlossen die Männer zu losen. Sie wollten einer nach dem anderen aus dem Bauernhaus stürmen, durch den Schnee rennen und irgendwie versuchen, sich in Sicherheit zu bringen. Die Auslosung ergab, daß S.s Onkel als dritter gehen sollte.
    Er beobachtete durchs Fenster, wie der erste auf den schneebedeckten Acker hinauslief. Aus dem Wald gegenüber eröffneten Maschinengewehre das Feuer und mähten den Mann nieder. Einen Augenblickspäter lief der zweite los, und wieder geschah das gleiche. Die Maschinengewehre ratterten, und er fiel tot in den Schnee.
    Dann war der Onkel meines Freundes an der Reihe. Ich weiß nicht, ob er an der Tür zögerte, ich weiß nicht, was für Gedanken ihm in diesem Augenblick durch den Kopf

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