Das rote Notizbuch
bewußt war, wie gut und mit welcher Kraft sie sang, begann sie, kaum daß sie fertig war, wieder von neuem. Und dann noch einmal. Und noch einmal. Fünfzehn, zwanzig Minuten lang war das Haus mit immer schöneren und ekstatischeren Variationen dieses einen unvergeßlichen Satzes erfüllt:
It don’t mean a thing if it ain’t got that swing.
Am nächsten Tag (gestern) holte ich gegen zwei Uhr die Post herein. Es war ein ziemlicher Stapel, die übliche Mischung aus Mist und wichtigen Dingen. Einer der Briefe kam von einem kleinen New Yorker Lyrik-Verlag, und den machte ich als ersten auf. Zu meiner Überraschung fand ich darin die Fahnenabzüge meines Beitrags für das Buch meines Freundes. Ich las die Geschichte noch einmal durch, fügte ein paar Korrekturen ein und rief dann die für die Herstellung des Buchs verantwortliche Lektorin an. Ihren Namen und die Telefonnummer hatte ich aus dem Begleitschreiben des Verlegers,und nachdem wir kurz miteinander gesprochen hatten, legte ich auf und wandte mich dem Rest der Post zu. In die neue Ausgabe der von meiner Tochter abonnierten Zeitschrift
Seventeen Magazine
hatte sich ein schmales weißes Päckchen geschoben, das in Frankreich abgeschickt worden war. Ich drehte es um und sah nach dem Absender: Es kam von F., dem Dichter, dessen Erlebnis mit dem fehlenden Gemälde mich zu der kurzen Geschichte inspiriert hatte, die ich gerade zum ersten Mal, seit ich sie im Oktober geschrieben hatte, wieder gelesen hatte. Was für ein Zufall, dachte ich. In meinem Leben sind Dutzende solch merkwürdiger Dinge vorgefallen, und ich komme einfach nicht los davon, auch wenn ich mir noch so viel Mühe gebe. Was hat die Welt nur, daß sie mich ständig in diesen Unsinn hineinziehen muß?
Dann machte ich das Päckchen auf. Es enthielt einen schmalen Gedichtband – man könnte auch sagen ein broschiertes Heft; die Franzosen nennen so etwas
plaquette.
Nur zweiunddreißig Seiten, gedruckt auf gutem, elegantem Papier. Als ich es durchblätterte, hier und da einen Satz überflog und sofort den für F. so typischen überschwenglichen, frenetischen Stil erkannte, fiel ein winziger Zettel aus dem Buch und flatterte auf meinen Schreibtisch. Er maß etwa ein mal fünf Zentimeter. Ichhatte keine Ahnung, was das war. Ich hatte noch nie in einem neuen Buch einen losen Zettel gefunden, und falls er nicht als elegantes, mikroskopisches Lesezeichen dienen sollte, passend zur Eleganz des Büchleins selbst, konnte er eigentlich nur versehentlich dort hineingeraten sein. Ich hob das verirrte Zettelchen auf, drehte es um und sah, daß dort etwas geschrieben stand – eine Zeile von elf kurzen Wörtern. Die Gedichte waren in Französisch, das Buch in Frankreich gedruckt, aber die Wörter auf dem Zettel, der mir entgegengefallen war, waren englisch. Sie bildeten einen Satz, und der Satz lautete:
It don’t mean a thing if it ain’t got that swing.
An dieser Stelle nun kann ich der Versuchung nicht widerstehen, dieser Kette von Anekdoten ein weiteres Glied hinzuzufügen. Als ich die letzten Worte des ersten Absatzes des zweiten Abschnittes schrieb («daß er auf seinem Miniplaneten das Dasein eines modernen kleinen Prinzen führt»), mußte ich daran denken, daß
Der kleine Prinz
in New York geschrieben wurde. Wenige Menschen wissen das, aber nachdem Saint-Exupéry im Anschluß an die Niederlage Frankreichs 1940 aus dem Kriegsdienst entlassen worden war, kam er nach Amerika und lebte eineZeitlang in 240 Central Park South in Manhattan. Und dort schrieb er sein berühmtes Buch, das französischste aller französischen Kinderbücher.
Le Petit Prince
ist Pflichtlektüre für nahezu alle, die auf einer amerikanischen Highschool Französisch lernen, und wie für so viele andere vor mir war es auch für mich das erste Buch, das ich in einer Sprache las, die nicht Englisch war. Später habe ich viele Bücher auf Französisch gelesen. Und noch später habe ich Bücher aus dem Französischen übersetzt, um mir als junger Mann meinen Lebensunterhalt zu verdienen; und schließlich habe ich vier Jahre lang in Frankreich gelebt. Dort habe ich F. kennengelernt und bin mit seinem Werk vertraut geworden. Es mag befremdlich klingen, aber ich glaube, man kann ohne weiteres sagen, daß ich, hätte ich 1963 als Schüler nicht
Le Petit Prince
gelesen, siebenunddreißig Jahre später auch nicht dieses Buch von F. zugeschickt bekommen hätte. Und folglich hätte ich auch den geheimnisvollen Zettel mit dem Satz
It don’t
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