Das rote Notizbuch

mean a thing if it ain’t got that swing
nicht erhalten.
    Das Haus 240   Central Park South ist ein seltsames, unförmiges Eckgebäude am Columbus Circle. 1941 erbaut, bezogen es die ersten Mieter kurz vor Pearl Harbor und Amerikas Kriegseintritt. Wann genau Saint-Exupéry dort eingezogen ist, ist mir unbekannt, aber er muß einer der ersten gewesen sein,die in diesem Gebäude gewohnt haben. Nun will es einer dieser eigenartigen Zufälle, die absolut nichts zu bedeuten haben, daß auch meine Mutter zu den ersten Bewohnern dieses Hauses zählte. Sie kam als Sechzehnjährige mit ihren Eltern und ihrer Schwester aus Brooklyn dorthin und zog erst fünf Jahre später wieder aus, als sie meinen Vater heiratete. Es war dies ein durchaus ungewöhnlicher Schritt für die Familie – von Crown Heights zu einer der vornehmsten Adressen in Manhattan   –, und für mich ist es eine bewegende Vorstellung, daß meine Mutter in demselben Haus gewohnt hat, in dem Saint-Exupéry
Le Petit Prince
geschrieben hat. Ganz besonders rührt mich die Tatsache, daß sie von all dem nichts wußte: weder, daß das Buch geschrieben wurde, noch, wer der Autor war. Und natürlich erfuhr sie auch nichts von seinem Tod, als er im letzten Kriegsjahr mit seinem Flugzeug abstürzte. Etwa um die gleiche Zeit verliebte sich meine Mutter in einen Piloten. Und zufällig starb auch er im selben Jahr.
    Meine Großeltern lebten bis zu ihrem Tod in dem Haus 240   Central Park South (meine Großmutter starb 1968, mein Großvater 1979), und ihre Wohnung spielt in vielen meiner wichtigsten Kindheitserinnerungen eine wichtige Rolle. Nach der Hochzeit zogen meine Eltern zunächst nach New Jerseyund wechselten dann während meiner Kindheit noch häufig den Wohnsitz, aber die New Yorker Wohnung blieb für mich immer ein fester Punkt in einem ansonsten unstabilen Universum. Dort stand ich am Fenster und sah den Verkehr um das Standbild von Christopher Columbus fließen. Dort führte mir mein Großvater seine Zaubertricks vor. Dort wurde mir zum ersten Mal klar, daß New York meine Stadt war.
    Wie meine Mutter zog auch ihre Schwester aus der Wohnung aus, als sie geheiratet hatte. Kurze Zeit später (Anfang der fünfziger Jahre) gingen sie und ihr Mann nach Europa und lebten dort zwölf Jahre lang. Wenn ich an die verschiedenen Entscheidungen denke, die ich in meinem Leben getroffen habe, kann ich gar nicht daran zweifeln, daß ihr Beispiel mich inspiriert hat, als Zwanzigjähriger nach Frankreich zu gehen. Als meine Tante und mein Onkel nach New York zurückkamen, war mein kleiner Vetter elf Jahre alt. Ich hatte ihn erst einmal gesehen. Seine Eltern hatten ihn in Frankreich aufs Gymnasium geschickt, und obwohl wir sechs Jahre auseinander waren, lasen wir aufgrund der Unterschiede in den jeweiligen Schulsystemen
Le Petit Prince
zur gleichen Zeit. Keiner von uns hat damals gewußt, daß das Buch in ebendem Haus geschrieben worden war, in dem unsere Mütter einmal gewohnt hatten.
    Nach ihrer Rückkehr aus Europa zogen mein Vetter und seine Eltern in eine Wohnung an der Upper East Side. Und in den nächsten Jahren ging er zum Haareschneiden Monat für Monat in den Friseursalon des Carlyle Hotels.

Informationen zum Buch
    Eine Frau heiratet, ohne es zu wissen, ihren Bruder; ein unsteter Reisender taucht im rechten Moment auf, um ein Paar vor dem Verhungern zu bewahren; ein Mann findet durch einen unverhofften Anruf die verloren geglaubte Liebe seines Lebens wieder.
    In einem roten Notizbuch hat Paul Auster über viele Jahre Ereignisse aus seinem Leben festgehalten; Ereignisse, bei denen der Zufall eine entscheidende Rolle spielte: fünfzehn unglaubliche Erzählungen, allesamt wahr und doch so phantastisch.
     
    «Sie können den Auster aufschlagen, wo Sie wollen, und er ist immer interessant. Ein geistreicher Schriftsteller!» . (Marcel Reich-Ranicki im «Literarischen Quartett»)

Informationen zum Autor
    Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University New York und verbrachte einige Jahre in Paris. Heute lebt Auster in Brooklyn, New York. Er ist mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt verheiratet und hat zwei Kinder. Seine Romane, Essays, Gedichte und Drehbücher liegen sämtlich in der Reihe der rororo-Taschenbücher vor.
     
    Weitere Veröffentlichungen:
    Im Land der letzten Dinge
    Die Erfindung der Einsamkeit
    Smoke. Blue in the Face
    Mr.   Vertigo
    Von der Hand in den