Das rote Zimmer
können. Meine Tochter war auch noch als Teenager ein braves Mädchen. Inzwischen hatte sie ein paar Freunde mehr, ging manchmal am Samstagabend aus und gönnte sich hin und wieder ein paar Drinks, aber nicht viele. Sie hat weder geraucht noch irgendwelche Drogen genommen. Sie sah sehr hübsch aus, aber das war ihr selbst nicht bewusst, und ich glaube, deswegen ist es auch den meisten anderen Leuten nicht aufgefallen. Sie gab nicht an und flirtete kaum. Ich fand immer, dass sie das hübscheste Mädchen war, das ich kannte, aber ich war schließlich ihre Mutter, da ist das wahrscheinlich ganz normal, oder? Und fünfzehn-, sechzehnjährige Jungs schauen ja noch nicht so genau hin. Dafür war ich dankbar
– ich habe immer zu ihr gesagt, sie solle sich nicht darum kümmern, was ihre Freundinnen so trieben, sie habe für das alles noch genügend Zeit. Zeit.« Sie lächelte bitter.
»Wie wir inzwischen wissen, hatte sie gar nicht so viel Zeit.« Sie hielt abrupt inne.
»Und dann?«, fragte ich leise.
»Dann lernte sie jemanden kennen. Einen Jungen. Nein, eigentlich einen Mann, er war älter als sie. Sie war erst vierzehn, als er ihr über den Weg lief. Im Gegensatz zu den anderen hat er genau hingesehen. Plötzlich kam sie mir nicht mehr vor wie ein junges Mädchen, sie schien an der Schwelle zur Frau zu stehen. Ich dachte, es läge daran, dass sie einfach erwachsen wurde. Rückblickend kann ich es besser nachvollziehen, aber damals hatte ich wirklich keine Ahnung, was vor sich ging. Ich fand es erst hinterher heraus. Sie war so unschuldig, meine stille kleine Tochter.
Sie war in ihn verliebt und bildete sich ein, dass er ihre Liebe erwiderte. Wäre mir das damals klar gewesen, hätte ich sie warnen können.«
Sie lächelte mich an. »Jetzt ahnen Sie bestimmt schon, dass ich Ihnen das nicht einfach nur erzähle, weil ich mit jemandem über Philippa sprechen wollte. Ein Geheimnis ist etwas Schreckliches. Die einzige Möglichkeit, ihm seinen Schrecken zu nehmen, besteht darin, es jemandem zu erzählen, aber das darf man ja nicht. Natürlich hat er sie verlassen, die Sache dauerte nur ein paar Wochen. Es hat ihr das Herz gebrochen, auch wenn ich noch immer nichts davon wusste.«
Den Blick wieder auf den Kanal gerichtet, fügte sie hinzu:
»Und sie war schwanger.«
Ich starrte wie sie auf das Wasser, in dessen Tiefen Dolls Fische lauerten. »Sie hat das Baby bekommen?«
»Als ich herausfand, dass sie schwanger war, befand sie sich bereits in der achtundzwanzigsten Woche. Also bekam sie das Baby. Ich sorgte dafür, dass alles geheim blieb. Niemand wusste davon, nur Philippa und ich.«
»Ein Mädchen?«
»Ja. Ein Mädchen, das vor ein paar Monaten achtzehn geworden wäre.«
»Lianne?« Dann war sie älter gewesen, als ich gedacht hatte.
»Ich habe der Schule mitgeteilt, Philippa habe Drüsenfieber. Wir fuhren gemeinsam nach Frankreich. Sie war sehr still, als stünde sie unter Schock, aber sie tat, was ich ihr sagte. Ihr blieb im Grunde gar keine andere Wahl.
Man nahm ihr das Baby sofort nach der Geburt weg.
Philippa wollte es unbedingt einen Moment im Arm halten, aber ich ließ sie nicht. Ich wollte nicht, dass sie eine Bindung zu dem Kind entwickelte. Sie konnte kein Kind haben, um Gottes willen, sie war doch selbst noch eins. Sie sollte ein glückliches Leben haben, einen Ehemann, all die Dinge, die ich für sie geplant hatte. Sie weinte zwei Tage lang ununterbrochen. Ich habe noch nie jemanden so weinen sehen, es war wie ein Dammbruch, als würden plötzlich all die Tränen aus ihr herausquellen, die sie ihr Leben lang nicht geweint hatte, weil sie zu selbstlos gewesen war, zu bemüht, es allen recht zu machen. Dann schien sie sich wieder zu fangen. Ihre Milch versiegte, ihr Bauch wurde langsam wieder flach.
Sie kehrte in die Schule zurück, machte ihre Prüfungen und ging ans College. Sie hat nie wieder darüber gesprochen.«
»Mrs. Vere …«
»Aber ich habe das Baby im Arm gehalten, ein winziges Ding mit schrumpeliger Haut und verklebten blauen Augen. Sie hat ihre Faust um meinen Finger gelegt und wollte ihn nicht mehr loslassen, als wüsste sie es.«
»Was?«
»Dass ich ihre Großmutter war. Ihre Familie. Ihr Zuhause. Ihre letzte Chance. Ich löste ihre kleinen Finger, einen nach dem anderen, und übergab sie einer Schwester.«
»Und dann wurde sie weggebracht, freigegeben zur Adoption?«
»Ja, zur Adoption, zumindest nehme ich das an. Ich wollte nicht, dass Philippa Einzelheiten erfuhr. Ich
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