Sanctum
PROLOG
22. Juni 1767, Saint-Alban,
Schloss der Familie de Morangiès
Macht Euch nicht lächerlich, Abbé. Die Bestie ist tot.« So, wie Pierre-Charles, Comte de Morangiès, es sagte, klang es nach einem Befehl. Wie immer, wenn die Rede auf das Untier kam, das im Gevaudan mehr als drei Jahre lang gewütet hatte.
Abbé Acot saß dem alten Comte gegenüber. Vor ihm stand ein Glas Wein, ein edler Tropfen, wie er ihn nur selten zu schmecken bekam. Obwohl die Sonne durch die geschlossenen Fenster des hohen Raumes fiel und die Hitze drückend über dem Gevaudan lag, schien sie an den dicken Mauern des Schlosses zu scheitern. Dennoch schwitzte der Abbé in seiner einfachen schwarzen Priesterkutte, die angesichts der Pracht um ihn herum wie das schäbige Gewand eines Bettlers wirkte. Kleine Perlen rannen aus den kurzen, schwarzen Haaren über seine Stirn.
Er war kaum dreiundzwanzig Jahre alt und wagte es trotzdem, dem mächtigsten Mann des Gevaudan die Stirn zu bieten – einem Mann mit viel Einfluss am französischen Hof, dem es ein Leichtes wäre, einem einfachen Abbé das Leben schwer zu machen. Dieses Wissen um die möglicherweise nur noch ein paar Worte entfernte Hölle auf Erden half nicht, die Nervosität des Abbés zu besänftigen. Also trank er mehr Wein, als gut für ihn war, doch er benötigte allen Mut, den er aufbringen konnte.
Dabei war der Abbé alles andere als ein furchtsamer Mensch. Er saß nur deswegen im Salon des Schlosses, weil er mit solcher Eindringlichkeit am Tor darum gebeten hatte, eingelassen zu werden, dass es unmöglich gewesen war, ihn abzuweisen. Es ging wirklich um Leben und Tod.
Acot schluckte, wischte den Schweiß von der Stirn und sah dem Mann in die graugrünen Augen. Selbst im Sommer verzichtete der Comte, zugleich Marquis von Saint-Alban, Chevalier de Saint-Louis, Seigneur zahlreicher Pfarreien und einst erfolgreicher Lieutenant General Seiner Majestät, nicht auf seine Weißhaarperücke und die schwere, bestickte Jacke in Dunkelblau. Beides verlieh ihm eine zusätzliche Aura der Autorität, die jeden Besucher leiser und demütiger sprechen ließ, als es vielleicht notwendig gewesen wäre.
»Es ist ein Wolf erlegt worden, das möchte ich zugestehen, mon Seigneur.«
»Es war die Bestie. Das sollte sich auch bis in die Pfarreien herumgesprochen haben, die Ihr durchwandert, Abbé.« Der Comte hob das Glas. »Lang leben der Marquis d’Apcher und seine Jäger.«
Acot trank den Wein aus. Ein Brennen in seinem Magen zeigte ihm, dass die Säure ihm nicht bekam. Dafür stieg sein Mut. »Und ich bestehe darauf, mon Seigneur: Das Biest streicht noch immer durch die Wälder. Man hat dem Volk einen Wolf gezeigt, und zwar nicht, weil der wahre Anblick der Bestie zu schwer zu ertragen ist, sondern weil sie noch keiner erlegt hat.«
»Abbé!« Morangiès stellte das Glas so hart auf den Tisch, dass es zwischen Stiel und Kelch zerbrach. Der rote Wein ergoss sich über den dunklen Holztisch. »Da seht Ihr, was Ihr mit Euren Torheiten angerichtet habt. Ein edler Tropfen ist verloren gegangen.«
»Torheit, mon Seigneur?« Acot beugte sich rasch nach seiner Tasche, um dem Blick zu entkommen, der ihn für diese Anmaßung mit Sicherheit getroffen hätte, und holte einen Packen handschriftlicher Notizen hervor. »Diese hier sammele ich, seit die Bestie aufgetaucht ist. Ich befrage Augenzeugen, Opfer und Jäger. Und ich habe mir den Wolf, den man durchs Gevaudan schleift, bis er zusammen mit Chastel seinen Weg nach Versailles machen wird, genau angesehen.« Er wedelte mit den Papieren. »Nichts, aber auch nichts stimmt mit dem überein, was die Menschen mir beschrieben haben, mon Seigneur. Die Bestie ist da draußen und wird wieder Menschen fressen!«
Morangiès streckte die beringte Hand nach den Blättern aus. Acot reichte sie ihm zögerlich. »Ihr wisst, dass Ihr gegen das Gebot des Königs verstoßt, indem Ihr behauptet, die Bestie lebt?«, sagte er beiläufig und dennoch drohend.
»Welches Interesse habt Ihr, mon Seigneur, mir und den Pfarreien weismachen zu wollen, dass die Bestie tot ist?«, retournierte der Abbé unerschrocken – und erschrak selbst über den Klang seiner Worte. Nun war er zu weit gegangen … doch er musste den Mann überzeugen, die Jagd nicht aufzugeben! Das war er Gott und den Menschen in dieser Region schuldig.
Morangiès zog die Augenbrauen zusammen. Scheinbar achtlos legte er die Aufzeichnungen neben sich, außer Reichweite des jungen Mannes, und legte eine Hand
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