Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
Vom Netzwerk:
Setzkasten in den Armen war er über eine morsche, längst nicht mehr benutzte Treppe wieder nach oben gestiegen.
    Der Blitzschlag und sein Widerschein aus den Mauerritzen hatte ihn so hart getroffen, daß er rücklings in einen modrig riechenden Stapel Abfallpapier zurückgestürzt war.
    Drei Tage lang lag er unter dem Gewicht des Holzkastens besinnungslos im Müll. Er wußte plötzlich, daß es diese Ohnmacht war, die ihm das Leben gerettet hatte. Er wollte nicht an die grauenhafte Zeit danach denken, doch seine Erinnerung war stärker. Er würgte unwillkürlich, als ihm wieder einfiel, wie er sich in den Tagen nach der Katastrophe ernährt hatte. Noch jetzt spürte er den ekelhaften Geschmack von Papier, Knochenleim, Holzresten und schweinsledernen Bucheinbänden in seinem Mund ...
    Krank, fiebernd und zunehmend verwirrter hatte er brackiges Wasser aus mühsam ertasteten Brunnensielen getrunken. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er in einem Blechschrank der Lagerarbeiter einen Apfel, modrig riechendes Brot und eine halbe Flasche Kräuterlimonade gefunden hatte. Er wußte nur noch, daß er das Brot nicht angerührt hatte.
    Später hatte er in einer Jacke Vitaminbonbons, eine halbe Tafel Schokolade und brüchige Salzstangen entdeckt. Das war sehr lange vor dem Gurren der Taube geschehen ...
    Er zog den linken Arm ein, der noch immer in Richtung auf die tote Zwergtaube wies. Millimeter für Millimeter hob sich sein vermummter Oberkörper aus dem Staub. Unendlich mühsam kroch er in den Schatten. Dort, wo die Setzer und Metteure sich manchmal Tee gekocht hatten, stand ein Hocker vor einer staubigen Spüle.
    Der Überlebende zog sich mühsam an den Sprossen der Hockerbeine hoch. Er hängte seinen Körper über die Sitzfläche, glitt mit den Füßen aus und schaffte es schließlich, die Hähne eines Boilers an der Wand zu erreichen.
    Zuerst kam nur eisenbraunes Wasser aus dem Behälter. Der Überlebende schob den Hocker bis an die Wand und ließ sich auf den Sitz fallen. Für eine Weile kämpfte er gegen ein Gefühl der Übelkeit. Sein Körper schwankte, während er die Handschuhe von seinen Händen zog. Die Hände sahen schwarz, aufgedunsen und gleichzeitig krallenartig aus. Er hielt sie unter das Wasser.
    Ohne zu denken spülte er eine Kanne aus. Er warf Teebeutel hinein, zog die Schublade neben der Spüle auf, füllte die Kanne fast zu einem Viertel mit Zuckerwürfeln und keuchte ruckartig, als das Wasser immer heißer wurde.
    Aus irgendeinem Grund trocknete er seine brennenden Hände mit Seidenpapier aus einem Fach zwischen den Setzkästen. Er fand eine Büchse mit Talkumpuder. Wie ein Affe, der nicht wußte, was er tat, kippte er sich das Puder über Kopf und Hände. Dann wickelte er mehrere Bahnen Seidenpapier um die heiße Teekanne, stopfte sich Milchbüchsen in die Taschen seiner Schürzen und wankte zur Öffnung in den Regalen mit den Setzkästen zurück.
    Noch während er durch den staubigen Raum stolperte, drang der Verwesungsgeruch von Leichen in seine Nase. Er schnaubte mehrmals, dann setzte er die Tülle der Kanne an seine rauhen Lippen und schlürfte vorsichtig einen Schluck heißen Tee nach dem anderen.
    Er kletterte nach unten in die schützende Dunkelheit zurück. Wie ein Tier, das die Dunkelheit fürchtet und sich gleichwohl in einer Höhle sicherer fühlt, tappte er mit seiner Teekanne über knarzende Stufen nach unten.
    Das Licht von oben reichte nicht aus, um den großen Archivkeller zu erhellen. Trotzdem blieb Goetz von Coburg plötzlich wie versteinert stehen. Er starrte auf ein Schild an der Wand, das er in der dunklen Abgeschiedenheit der Tage nach der Katastrophe nicht bemerkt haben konnte:
    NOTAUSGANG ZUM SCHUTZRAUM
    Ein Pfeil wies nach rechts. Voll Zorn über sich selbst starrte Goetz von Coburg das Schild an. Wie viele Tage hatte er direkt unter dem erlösenden Hinweis unwissend, krank und verzweifelt verbracht?
    Kein Anachronismus, nein - nur ein klares, eindeutiges Zeichen, das ständig dagewesen war und das er nicht gesehen hatte, weil er es aufgrund der Umstände nicht sehen konnte!

2. KAPITEL
    Die Dolche in der Bohlenplatte bildeten ein Pentagramm, aber das Femesymbol wirkte nicht mehr auf Guntram. Aus den Bleikammern der Gruft drangen dumpfe, schwermütige Gesänge bis ins Refugium der Alchimisten-Familie.
    Guntram beugte sich vor. Agnes stand noch immer dicht neben ihm. Sie sah, wie ihr Bruder sein linkes, graues Auge schloß und mit dem anderen, dem hellblauen, Meister

Weitere Kostenlose Bücher