Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Wolfram fixierte. Sie fühlte beinahe körperlich, wie zwischen beiden eine unsichtbare, energiegeladene Gedankenbrücke entstand.
Der Gesang der Familien kam näher. Wie unter einem geheimnisvollen Zwang legten sich Guntrams Finger um die Dolche in der Tischplatte.
Er spürte keinen Schmerz, als er sie mit einem kurzen Ruck aus dem Holz riß. Er hob den Arm und ließ die Dolche fallen. Im letzten Licht der Kerze zeigte er den Angehörigen der Alchimisten-Familie seine Handfläche. Fünf rote Striche am Handballen und fünf weitere an den Fingern zeigten, wie er zugegriffen hatte.
»Kein Tropfen Blut«, murmelte Mathilda.
»Ein Hexer!« nickte ihr Mann. »Oder ein Seher ...«
»Du hast die Kraft der Kathedralenbaumeister in dir«, hörte Guntram die Stimme von Meister Wolfram in sich. »Es ist die ungeheure Kraft des Glaubens , ohne die kein Mensch leben kann - selbst wenn er Gott verneint! Weil sie die Materie dem Geist und die Welt Gott näherbringen wollten , schufen die Logenmeister mit den neuen , den gotischen Kathedralen ein immer höher strebendes Abbild des Himmels. Geht dem Himmel entgegen , meine Enkel! Vielleicht hilft euch der Glaube , das Sakriversum zu finden ... oder ein noch größeres Geheimnis!«
Guntram bemerkte nicht, wie sich plötzlich Mitglieder der anderen Familien durch die nach jeder Flucht kleiner geschnittenen Luken dicht über der Türschwelle der Gruft drängten.
Sie sammelten sich an den Leitern, die zu den oberen Bohlentischen führten. In der Stunde des nahen Todes wollten sie alle bei der Familie der Kelchbewahrer sein. So schrieb es ein altes Gesetz aus dem Großen Buch vor, das sie im Sakriversum zurückgelassen hatten.
Guntram achtete nicht auf den Lärm, die Stimmen, nicht einmal auf seine Schwester, die dicht neben ihm stand. Im Durcheinander rings um sie herum bildeten Wolfram und Guntram zwei stille Inseln, die durch ein unsichtbares Gedankenband vereint waren. Niemand merkte, daß Guntram in diesem Augenblick eine Weihe erhielt, wie sie stets nur wenigen Angehörigen der Familien vergönnt war.
Er erfuhr von Meister Wolfram die Geschichte seines Volkes ...
*
Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts bestand das Volk der Schander aus zwölf Familien, die allesamt Nachkommen der Zwillinge Lancelot und Gudrun, sowie deren Kinder, Enkel, Ur-Enkel und Ur-Ur-Enkel waren.
Lancelot und Gudrun waren im Jahre 1318 im Alter von zehn Jahren aus der Obhut der Nonnen des ersten Klosters von Altomünster an den damals bereits im hohen Alter von siebzig Jahren stehenden Baumeister der Kathedrale übergeben worden. Danach hatte niemals wieder irgend jemand etwas von den Geschwistern gehört.
In den Jahren zuvor waren einige Ereignisse eingetreten, deren Auswirkungen den Lauf der Weltgeschichte noch viele Jahrhunderte beeinflussen sollten.
Nach dem Rückzug der Mongolen aus Europa gründete Kublai-Khan, der Enkel Dschingis-Khans, in China einen in sich abgeschlossenen Staat. Die Kreuzritter hatten Jerusalem für immer verloren. Während die katholische Kirche ihre Gegner als Ketzer verbrannte und die Juden zu Hunderttausenden verfolgt, enteignet und in Gettos getrieben wurden, erklärte Ekkehard die göttliche Gnade als unabhängig von der Kirche.
Gleichwohl versuchte Papst Bonifatius VIII. als letzter großer Vertreter des päpstlichen Weltherrschaftsgedankens im Jahre 1302 noch einmal, mit der Bulle Unam sanctam gegen die neuen Kräfte der Nationalstaaten anzugehen. Gleichzeitig ersetzte er die Kreuzzugsablässe durch den Finanzierungstrick der Jubelablässe, die durch ein Heer von Ablaßpredigern frei Haus verschleudert wurden - eine der Ursachen der späteren Reformation.
Die Veränderung Europas konzentrierte sich auf die südlichen Grafschaften Englands, die Normandie, die Niederlande, Flandern, die Île-de-France, die Champagne und weiter östlich auf das Rheinland. In England begann die experimentelle Wissenschaft; Magnetnadel und Richtungscheibe wurden zum Kompaß vereint. Und Dante forderte die Trennung von kirchlicher und weltlicher Macht, während er gleichzeitig im letzten Gesang seiner »Göttlichen Komödie« vom Geheimnis schwärmte, das Sonne und Sterne bewegt ...
Am 11. Oktober 1303 starb Benedikt Gaetani aus Anagni, nur wenige Wochen, nachdem er als Papst Bonifatius VIII. auf Befehl Philipps des Schönen von Frankreich durch dessen Rat Wilhelm Nogaret gefangengenommen und von den Bürgern Anagnis wieder befreit worden war.
Das Konzil, das König Philipp zuvor
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