Das Schatzbuch der Köchin (German Edition)
den kleinlichen Gesetzen und Beamten gegenüber ließ auch ihn darüber nachdenken, schleunigst das Weite zu suchen. Tu einfach so, als wärst du nie hier gewesen, flüsterte ihm sein Bauchgefühl ein. Rasch überschlug er, welche Spuren er hinterlassen hatte. Er hatte das Ziel seiner Reise für sich behalten. Schon um Mitternacht konnte er weit weg sein. Doch wenn er jetzt ging, würde er nie erfahren, was mit Carinna passiert war. Vielleicht war sie noch oben. Oder sie hatte ihm eine Nachricht hinterlassen. Verflucht noch mal, er musste wohl oder übel noch zurück ins Haus.
Er drehte sich auf dem Absatz um und rannte durch die unteren Räume. Er fand ein penibel aufgeräumtes Wohnzimmer, das offenbar von einer Haushälterin oder einem anderen der verfluchten Heuerlinge okkupiert worden war. Dann die Küche, in der noch immer das Durcheinander herrschte, das die Zubereitung eines Mahls mit sich brachte. Die zerbröselten Kuchen auf dem Tisch verströmten einen übelkeiterregenden Geruch. Der Gestank erinnerte ihn flüchtig an Lilien bei einer Beerdigung. Er musste an der offen stehenden Vordertür noch einmal innehalten, um frische Luft in die Lungen zu pumpen. Wenn sie hier ist, muss ich nach oben gehen und sie finden, dachte er. Egal, ob sie noch lebt oder schon tot ist.
Die Stufen knarzten unter seinen Schritten. Er konnte seiner Angst keinen Namen geben. Für welche ungelegenen Gäste hatte man das eklige Bankett angerichtet? Und warum hatte Carinna Bengo allein zurückgelassen? Er erreichte die erste Etage und betrat die einfachen Kammern. Sie waren alle leer. Dann fand er ein Ankleidezimmer, in dem Wasser in einem Krug stand und faulig stank. Schließlich stand er vor einer verschlossenen Tür mit Messingknauf. Er vermutete dahinter das beste Zimmer. Das mit den breiten Fenstern über dem Eingang zur Villa. Er griff nach dem Knauf und öffnete die Tür.
«Carinna!» Für einen Moment glaubte er, sie gefunden zu haben. Sie stand mit dem Rücken zu ihm in einem Kleid aus rüschiger, rosafarbener Seide bewegungslos mitten im Raum. Er näherte sich ihr und erkannte seinen Irrtum: Das Kleid hing nur an einem Holzkleiderständer, der Kopf war nur eine Holzkugel, auf die jemand Carinnas Hut gehängt hatte. Ein grausames Maskenspiel, das man da mit ihm trieb. Er näherte sich der Puppe und starrte sie verblüfft an. Carinnas vertrauter Veilchenduft stieg von dem Kleid auf und quälte ihn mit ihrer Gegenwart. Frustriert schlug er nach diesem Skelett aus Holz, das ihn verhöhnte, und der Kopf polterte zu Boden. Jemand spielte eine gemeine Posse mit ihm, das wusste er ganz genau, als er seinen Brief entdeckte, der tief ins Mieder des Kleids gestopft war und sein Siegel trug. Er hatte ihn eigenhändig in Marseille geschrieben, vor nicht mal einer Woche. Er spürte, wie der Wahnsinn nach ihm griff. Kein klarer Gedanke war mehr möglich.
Doch als er den Brief hervorzog, klapperte noch etwas zu Boden. Die Rose von Mawton. Der Rubin gehörte dem alten Stümper Sir Geoffrey. Ein Edelstein, der berühmt war für sein loderndes, rotes Feuer. Mehr als tausend Pfund musste er wert sein. Hatte sie ihn also doch an sich genommen, das kluge Kätzchen. Gierig steckte er die Rose und seinen zerknüllten Brief ein. Schließlich ließ er den einzig möglichen Schluss zu. Carinna hätte Bengo vielleicht zurückgelassen, wenn sie krank oder verrückt geworden wäre oder man sie mit einer Pistole bedroht hätte. Aber einen Edelstein zurücklassen, der ein Vermögen wert war? Er wusste aus tiefstem Herzen, dass Carinna tot war.
Er ertrug es keinen Moment länger in diesem Haus, das ihn an jeder Ecke verhöhnte. Stolpernd floh er die Treppe hinunter, lief zwischen den Bäumen zum Tor und hinaus auf die verlassene Landstraße. Ob er irgendwelche Behörden benachrichtigen sollte? Meldung machen? Nein, nein. Er hatte die Rose. Warum sollte er diesen Schatz einem Hanswurst von Magistrat überlassen? Er brauchte ihn dringender als diese Leute. Zumal er ohnehin rechtmäßig ihm gehörte, wenn Carinna tot war, denn er war ihr nächster Angehöriger. Und er brauchte das Geld so dringend. Ja, das war Vorsehung. Aber Carinna war fort. Er spürte: Nur um wenige verzweifelte Tage hatte er sich verspätet.
Hinter ihm knackte laut ein Ast. Voller Pein schrie er auf und drehte sich um. Kitt stolperte fast über seine Füße, hatte jedoch zu große Angst, um stehen zu bleiben und das Geräusch zu ergründen. Hohe Schatten türmten sich vor ihm auf.
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