Das Schiff aus Stein
auf Rufus zu.
»Minster!« Rufus strahlte, als er die Bisamratte erblickte, die bei Meisterin Iggle in der Bibliothek lebte. Rufus liebte Minster. Sie hatte Rufus nicht nur bei der Auswahl seines ersten Fragments geholfen, sondern ihn auch als geheimer Tierführer in seiner ersten Traumflut begleitet. Erfreut lief Rufus auf sie zu. Er zog einen Radiergummi aus der Hosentasche, den die Bisamratte als ihre Leib- und Magenspeise betrachtete und von denen er immer einige bei sich trug.
Minster setzte sich auf und sah Rufus aus ihren dunklen Knopfaugen an, während sie den Radiergummi zwischen die Pfoten nahm und daran zu knabbern begann.
Im selben Moment bog eine Gestalt um die Ecke, hinter der eben auch Minster aufgetaucht war.
»Danke, dass du mich geführt hast, Minster!«, rief sie. »Und wie ich sehe, hat unser Freund Rufus dir bereits deinen Lohn für die gute Tat gegeben.«
Rufus riss erstaunt die Augen auf.
Vor ihm stand ein drahtig wirkender Mann mit weißem Haar. Er hielt einen weißen Stock aus Walbein in der Hand, der über und über mit blauen Mustern verziert war.
»Meister McPherson!«, rief Rufus.
Die blauen Augen des Flutmarkthändlers, dem Rufus sein Flutmarktartefakt anvertraut hatte, leuchteten auf.
»Rufus!« James McPherson trat näher. Er reichte Direktor Saurini und dann dem Lehrling die Hand. »Es schmerzt mich aufrichtig, dass wir uns unter solchen Umständen wiedersehen. Aber es ist etwas geschehen, das keinen Aufschub duldet und wobei ich Hilfe benötige.«
»Was ist denn um Himmels willen passiert?«, rief Direktor Saurini.
James McPherson räusperte sich und sah Rufus an. »Es tut mir sehr leid. Es geht um dein Artefakt, Rufus.«
Rufus spürte, wie er rot wurde. Sein Artefakt? Das konnte nur bedeuten, dass etwas mit dem Kopf der Nike geschehen war.
Rufus hatte dem Flutmarkthändler den Kopf der Nike von Samothrake anvertraut, ein absolut einmaliges Kunstwerk, von dem kein Mensch wusste, dass es überhaupt existierte. Ihr weißer Marmorkörper stand seit über hundert Jahren ohne Kopf im Pariser Louvre und Tausende von Besuchern waren vor ihrer schönen Gestalt schon in Ohnmacht gesunken.
Ihr Haupt war schier unbezahlbar. Deswegen hatten sie abgemacht, dass James McPherson den Kopf so teuer wie irgend möglich in die Welt bringen sollte. Denn dann, so hatte Rufus es sich überlegt, würde der Ruhm des Kunstwerks das Geld überstrahlen, das für es ausgegeben worden war, und es am Ende in den Schatten stellen. Was aber war geschehen?
»Was ist mit dem Kopf der Nike?«, fragte er ängstlich. »Um was geht es?«
James McPherson hob beide Hände. »Er ist mir gestohlen worden.« Er blickte Rufus entschuldigend an.
Der Lehrling wurde bleich. »Aber wie?«, stotterte er.
»Aus meinem Hotelzimmer«, erklärte James McPherson. »Ich hatte ihn wie alle meine Artefakte aus der Akademie bei mir im Zimmer. Dort bewahre ich sie während der Reise auf. Ich verlasse das Zimmer nicht und lasse mir Essen und Trinken dorthin bringen. Das war bisher immer sicher genug. Da keiner weiß, wer ich bin, und ich ohne großen Aufwand reise, hätte eigentlich niemand davon wissen dürfen.«
»Ich habe es geahnt!« Direktor Saurini schlug die Hände über dem Kopf zusammen und auf seiner Stirn erschienen tiefe Falten. »Aber heißt das, dass es ein Gelegenheitsdiebstahl war – oder aber, dass jemand einen Hinweis darauf bekommen hat, dass es ihn gibt und wo er zu finden war?«
Der Fluthändler seufzte. »Ich fürchte, dass jemand wusste, was ich mit mir führte.«
»Aber wer sollte denn davon wissen?«, fragte Rufus entsetzt. »Außerhalb der Akademie kannte doch niemand den Kopf.«
»Eben«, sagte McPherson. »Und das bedeutet, dass jemand aus diesem Haus sein Wissen preisgegeben hat oder dass jemand von außen der Akademie auf die Schliche gekommen ist. Deswegen bin ich ja hier! Und einer Sache bin ich mir vollkommen sicher: Es war ganz sicher kein Gelegenheitsdiebstahl …«
Der Flutmarkthändler stieß wütend seinen Stab auf den Boden. »Es war ein gezieltes Unterfangen. Dafür habe ich Beweise. Ich bin am Morgen danach mit fürchterlichen Kopfschmerzen aufgewacht. Irgendjemand muss mir am Abend zuvor etwas in den Tee gemischt haben, den ich im Hotel getrunken habe. Ich wollte am nächsten Morgen um fünf Uhr früh aufstehen, um einen Zug nach Moskau zu nehmen. Alle übrigen Handelsgüter hatte ich bereits tags zuvor verfrachtet. Und ich war das erste Mal in diesem Hotel, wie ich es immer
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