Das Schiff aus Stein
hätte gerne, dass Sie dieses Armband genauso gut verkaufen, wie Sie es mit der Ampulla getan haben. Für Ihre Mühen würde sie Ihnen dreißig Prozent vom Erlös anbieten.«
Rufus sah, wie seine Mutter die Hand nach dem Armband ausstreckte.
»Und wenn Sie erfolgreich sind, hätte meine Freundin noch einige weitere Schmuckstücke zum Verkauf anzubieten«, fügte Coralia hinzu, ehe sie ihr das Armband gab.
Als Rufus’ Mutter es berührte, huschte ein zufriedener Ausdruck über ihr Gesicht.
»Es sind die vergessenen Schätze des alten Adels«, sagte Coralia sanft.
»Das muss sehr alter Adel sein, wenn mich mein Gespür nicht trügt«, erwiderte Rufus’ Mutter. »Dieses Internat hat wirklich seine verborgenen Seiten.«
Coralia schloss das Schließfach mit einem Ruck und fuhr herum. »Und sie müssen auch verborgen bleiben. Wenn Sie das nicht garantieren können, ist unsere kleine Übereinkunft sofort beendet.«
»Natürlich!«, Rufus’ Mutter lächelte. »Dieses und auch jedes andere Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.«
»Sicher?«, fragte Coralia kühl.
»So sicher wie in Abrahams Schoß.«
Coralia kicherte. »Wissen Sie auch, wo dieses schöne Sprichwort herstammt?«
Rufus’ Mutter schüttelte den Kopf.
»Aus der Bibel, Frau Minkenbold! Die Geschichte dort berichtet vom armen Lazarus, der nach einem Leben, das er in tiefer Armut verbracht hat, am Ende doch selig im Schoße Abrahams ausruhen darf, wohingegen der böse, egoistische Reiche in der Hölle landet!«
Die beiden Frauen sahen sich an.
»Ich habe keine Angst vor der Hölle«, sagte Rufus’ Mutter schließlich. »Wenn es sie nämlich gibt, dann nur auf Erden. Und da erlebt sie bestimmt nicht der Reiche.«
Coralia nickte bedächtig. »Wenn das so ist, sind wir uns einig. Nehmen Sie das Armband und verkaufen Sie es mit aller Vorsicht. Und wenn Ihnen dies gelingt, dann habe ich als nächstes Stück etwas ganz Außerordentliches für Sie. Etwas, nach dem sich jeder Museumsdirektor der Welt die Finger lecken wird. Etwas so Einmaliges, dass Sie es vielleicht zuerst nicht werden glauben wollen.«
Rufus’ Mutter verzog nicht einmal das Gesicht. »Wenn du es hast, kann ich es verkaufen«, sagte sie nur.
Rufus fragte sich, wo er war. Er musste träumen, und er musste irgendwo in der Akademie sein. Die alten Schließfächer schienen zu der Bank zu gehören, die die Gebrüder Micheluzzi vor langer Zeit zur Tarnung der Akademie des leibhaftigen Studiums vergangener Zeiten gegründet hatten. Aber wenn er träumte, dann war dies eine Traumflut. Doch welches Artefakt löste sie aus?
Der dunkle Stein, den er bei Coralia eingesteckt hatte? Das konnte eigentlich nicht sein. Er hatte doch gar nicht über ihn nachgedacht. Und ohne zu forschen, ging es nicht, das hatte ihm James McPherson noch einmal bestätigt. Also musste es eine andere Verbindung sein.
Rufus blickte seine Mutter an. Er konnte ihr ansehen, dass sie Coralia kein Wort der Geschichte glaubte, die diese ihr da auftischte. Rufus dachte genau dasselbe. Natürlich handelte es sich bei dem Armband um ein Artefakt, das Coralia selbst in einer Traumflut bekommen hatte und das sie seiner Mutter nun unter falschen Angaben anvertraute, damit diese es für sie verkaufte. Wofür aber brauchte Coralia das Geld? Rufus dachte, dass er das herausfinden musste. Und wie war seine Mutter unbemerkt in die Akademie gelangt? Gab es noch mehr geheime Gärten oder Eingänge?
»Du bist eine bemerkenswerte junge Frau, Coralia«, sagte Rufus’ Mutter in diesem Augenblick.
»Das ist sie nicht«, sagte Rufus zu sich selbst. »Sie ist nur eine gemeine Diebin. Sie bestiehlt die Akademie.«
Coralia zuckte zusammen. »Was haben Sie eben gesagt?« Sie starrte Rufus’ Mutter an.
Unwillkürlich duckte sich Rufus. Hatte Coralia ihn gehört? Aber sie war doch bestimmt nicht in einer Traumflut. Nein, ihr Blick erfasste ihn nicht. Und doch musste er vorsichtig sein. Coralia hatte viele Fähigkeiten. Aber jetzt wusste er auch, wo er sich befand. Er war in einer Traumflut, die er durch die Locke seiner Mutter ausgelöst hatte. Und er war hier, weil er über sie nachgedacht hatte. All seine Gedanken über sich und seine Mutter waren nichts anderes als die Erforschung seiner Mutter. Und deswegen hatte die Akademie ihm diese Traumflut geschickt.
»Ich habe gesagt, dass du eine bemerkenswerte junge Frau bist, Coralia«, wiederholte Rufus’ Mutter. »Und dass mir unsere Geschäftsbeziehung wirklich am Herzen liegt.«
Coralia
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