Das Schmetterlingsmädchen - Roman
gedacht, nach Haverhill zu fahren und in das Leben dieser Frau einzudringen. Und jetzt hatte sie nicht den Wunsch, Greta zu verstören – nicht wegen einer so unwichtigen Sache wie Blutsverwandtschaft.
»Ich denke darüber nach«, sagte Joseph und drehte das Wasser wieder an.
Sie nickte. Sie hatte gesagt, was sie sagen musste.
Tante Cora, die ihre Nichte liebte.
Im Winter 1953 hörte Cora deprimierende Dinge über Louise. Jemand, den sie bei einer Spendenaktion kennenlernte, hatte eine Bekannte, deren Neffe in New York lebte, und dieser Neffe berichtete, dass er Louise Brooks, den alten Stummfilmstar, mitten am Nachmittag in einer Bar auf der Third Avenue gesehen hatte, allein und betrunken und vor sich hin murmelnd. Cora, die Varianten dieser Geschichte mindestens schon zweimal gehört hatte, wusste nicht, wie viel davon erfunden oder hinzugedichtet war. Angeblich hatte der Neffe, der als kleiner Junge die schöne Louise Brooks im Kino gesehen hatte, sie beinahe nicht erkannt. Ihr Haar hing bis zur Taille hinunter, strähnig und grau durchsetzt. Auch der Pony war verschwunden. Der Neffe erzählte, dass Louise praktisch von ihrem Barhocker gefallen war, und als er zu ihr ging und sie höflich fragte, ob sie die sei, für die er sie hielt, wurde sie ausfallend und kreischte, er solle sie gefälligst in Ruhe lassen.
Cora wusste nicht, ob irgendetwas davon stimmte, aber ihr war klar, dass es durchaus möglich war. Es gab keinen Grund für die Annahme, dass allein die Tatsache, in New York zu leben, der Stadt, die sie liebte, Louise retten konnte oder sie vor ihrer Schwäche für Gin bewahrte. Was die Frisur anging, hielt Cora die Nachlässigkeit für beabsichtigt. Wenn Louise wirklich in Ruhe gelassen werden wollte, ließ sich das mit Sicherheit am besten bewerkstelligen, indem sie ihren berühmten Haarschnitt radikal änderte und ins andere Extrem ging.
Trotzdem hoffte Cora, dass die Geschichte übertrieben oder sogar völlig erfunden war. Louise musste jetzt Mitte vierzig sein, und wenn sie tatsächlich ihre Nachmittage damit verbrachte, betrunken von Barhockern zu fallen, könnte es das Ende ihrer Geschichte sein. Cora fragte sich, ob sie ihr an jenem Tag oben in ihrem verdunkelten Zimmer auf der North Topeka Street noch etwas anderes hätte sagen können, etwas, das Louise dazu gebracht hätte, mehr zu tun, als nur ihr Elternhaus zu verlassen. Aber sie bezweifelte es. Selbst da hatte Louise noch Schwung gehabt, genau wie damals in jenem Sommer in New York. Es kam nicht darauf an, ob es aufwärts- oder abwärtsging. Im Grunde war es erstaunlich, dass es Cora überhaupt gelungen war, ihre Richtung zu ändern.
Aber wie sich herausstellte, war Louises Geschichte noch nicht zu Ende – ganz und gar nicht. Als Cora das nächste Mal von ihr hörte, kam es von unerwarteter Seite, von Walter, Howards ältestem Sohn. Cora kannte Walter nicht so gut, wie es ihr lieb gewesen wäre. Sein Bruder und er waren in Houston aufgewachsen, und obwohl Howard seine Kinder in den Ferien nach Wichita brachte, so oft es ging, wurde es schwieriger für ihn, als sie ins Teenageralter kamen, und Cora hatte nie das Gefühl, sie so gut zu kennen wie Gretas Kinder. Mit Anfang zwanzig nannte sich Walter plötzlich Walt, und Cora wusste, dass er sehr klug war und sich für Filme interessierte und dass er in Paris irgendeiner Beschäftigung nachging, allerdings praktisch noch von seinem Vater lebte. Normalerweise hörte sie nur etwas von Walt, wenn er sich für die Schecks bedankte, die sie ihm regelmäßig zum Geburtstag und zu Weihnachten schickte. Deshalb war sie sehr überrascht, als Ende 1958 ein richtiger Brief von ihm per Luftpost aus Frankreich eintraf.
Liebe Großmutter!
Dad sagt, dass du Louise Brooks besser als sonst jemand in der Familie gekannt hast, und ich dachte, dass es dich vielleicht interessiert, dass ich sie hier in Paris gesehen habe. Sie wird hier immer noch sehr bewundert, und die Cinémathèque Française hat eine Retrospektive ihrer Filme organisiert. Ich habe sie tatsächlich auf einer Party kennengelernt und sie gefragt, ob sie sich an dich erinnert, aber ehrlich gesagt, sie war zu beschwipst für ein richtiges Gespräch. Sie soll eine echte Diva sein. Anscheinend bestellt sie sich alles Mögliche – auf Kosten der CF – beim Zimmerservice, nur um dann den Großteil ihrer Mahlzeiten aus dem Hotelfenster zu werfen. Manche Fans von ihr haben die Reste eingesammelt, wahrscheinlich, um ein Stück von Louise
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