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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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Kapitel 1
    Wolverine River, Alaska, 1920

    Mabel hatte gewusst, es würde still sein. Darum war es ihr schließlich gegangen. Keine glucksenden oder plärrenden Säuglinge. Keine lärmenden Nachbarskinder draußen auf dem Weg. Kein Füßchengetrappel auf den von Generationen ausgetretenen Holzstufen, kein Spielzeugklackern auf dem Küchenfußboden. Alle diese Geräusche, die an Mabels Versagen und Bedauern erinnerten, sollten zurückbleiben, und an ihre Stelle sollte Stille treten.
    Sie hatte sich die Stille in der Wildnis Alaskas friedlich vorgestellt wie nächtliches Schneegeriesel, die Luft lautlos, aber voller Verheißung, doch so war sie nicht. Vielmehr raspelten beim Fegen die Besenborsten auf dem Dielenboden, als würde eine scharfzahnige Spitzmaus an Mabels Herzen knabbern. Wenn sie das Geschirr spülte, klapperten Teller und Schüsseln, als wollten sie zerbrechen. Das einzige nicht von ihr selbst verursachte Geräusch war ein jähes «Krok-kroook», das von draußen kam. Mabel wrang den Spüllappen aus und blickte gerade rechtzeitig aus dem Küchenfenster, um einen Raben von einer kahlen Birke zur anderen flattern zu sehen. Keine Kinder, die einander durch das Herbstlaub jagten und beim Namen riefen. Nicht einmal ein einzelnes Kind auf einer Schaukel.

    Eines hatte es einmal gegeben. Ein winziges Ding, tot geboren und stumm. Das war zehn Jahre her, aber noch in diesem Moment ertappte sie sich dabei, wie sie die Geburt heraufbeschwor, die Hand nach Jack ausstreckte, um ihn aufzuhalten, zu berühren. Sie hätte es tun sollen. Sie hätte den Kopf des Babys in ihre Hand betten und ihm ein paar Härchen abschneiden sollen, um sie in einem Medaillon um den Hals zu tragen. Sie hätte in das kleine Gesicht blicken und wissen sollen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, und sie hätte es mit Jack zusammen in der Wintererde Pennsylvanias begraben sollen. Sie hätte das Grab kennzeichnen, hätte sich diese Trauer gestatten sollen.
    Es war immerhin ein Kind gewesen, wenn es auch mehr einem Wechselbalg aus dem Märchen glich. Verschrumpeltes Gesichtchen, winziger Kiefer, spitz zulaufende Ohren; so viel hatte sie gesehen und beweint, denn sie wusste, sie hätte es trotz allem lieben können.

    Mabel stand schon zu lange am Fenster. Der Rabe war längst über die Baumwipfel davongeflogen. Die Sonne war hinter einen Berg gesunken, das Licht fahl geworden. Die Äste waren kahl, das Gras gelblich grau. Keine einzige Schneeflocke. Ihr war, als sei alles Schöne, Glitzernde zu Staub zermahlen und aus der Welt gefegt worden.
    Der November war angebrochen, und das machte ihr Angst, weil sie wusste, was er mit sich brachte – Kälte, die über dem Tal lag wie ein nahender Tod, Gletscherwind zwischen den Ritzen des Blockhauses. Eine so allumfassende Dunkelheit, dass auch die Tage düster blieben.
    Mabel war in den vergangenen Winter blindlings hineingestolpert, ohne zu wissen, was von diesem neuen, rauen Land zu erwarten war. Jetzt wusste sie es: Von Dezember an würde die Sonne kurz vor Mittag aufgehen, wenige Stunden lang im Zwielicht an den Berggipfeln entlangziehen und wieder sinken. Mabel würde in einem Sessel neben dem Holzofen immerzu einnicken und wieder aus dem Schlaf hochschrecken. Sie würde zu keinem ihrer Lieblingsbücher greifen; die Seiten wären ohne Leben. Sie würde nicht zeichnen; was gäbe es schon in ihrem Skizzenbuch einzufangen? Einen trüben Himmel, schattige Winkel. Es würde ihr von Morgen zu Morgen schwerer fallen, das warme Bett zu verlassen. Schlafwandlerisch würde sie umherstolpern, Mahlzeiten zusammenkratzen und rings um das Blockhaus nasse Wäsche aufhängen. Jack würde sich abmühen, um die Tiere am Leben zu erhalten. Die Tage würden ineinanderfließen, der Würgegriff des Winters würde enger werden.
    Ihr Leben lang hatte sie an etwas Größeres geglaubt, an das Mysteriöse, das am Rand des Wahrnehmbaren immer wieder seine Form veränderte. Es war im Flattern von Nachtfalterflügeln auf Glas und in den gesprenkelten Bachbetten die Ahnung von Flussnymphen. Im Geruch der Eichen an dem Sommerabend, als sie sich verliebt hatte, und in der Morgendämmerung, die auf den Kuhteich fiel und das Wasser zu Licht werden ließ.
    Mabel konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal ein solches Flimmern wahrgenommen hatte.
    Sie nahm sich Jacks Arbeitshemden vor und begann zu flicken. Sie bemühte sich, nicht aus dem Fenster zu sehen. Wenn es nur schneien würde. Vielleicht würde das Weiße die harten

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