Das Schneemädchen (German Edition)
Ehefrau des Besitzers öffnete ihm die Tür. Betty, weit über sechzig, trug die Haare kurz geschnitten wie ein Mann und führte die Geschäfte gewissermaßen allein. Roy, ihr Mann, arbeitete bei der Bezirksverwaltung und war selten zu Hause.
«Guten Morgen, Betty», sagte Jack.
«Er ist scheußlich, soweit ich sehen kann.» Sie schlug die Tür hinter ihm zu. «Höllisch kalt und kein Schnee in Sicht. So was ist mir mein Lebtag noch nicht untergekommen. Bringst du Mabels Kuchen?»
«Jawohl, Ma’am.» Er stellte sie auf den Tresen und befreite sie von den Handtüchern.
«Die Frau kann backen, das ist jedenfalls sicher», sagte sie. «Alle wollen immer nur ihren Kuchen.»
«Freut mich zu hören.»
Sie zählte einige Geldscheine aus der Kasse und legte sie neben die Kiste auf den Tresen.
«Ich weiß zwar, dass ich deswegen ein paar Kunden verlieren werde, Jack, aber leider brauchen wir von jetzt an keine Kuchen mehr. Meine Schwester zieht zu uns, und Roy sagt, sie muss sich ihren Unterhalt mit Backen verdienen.»
Er steckte die Geldscheine in seine Manteltasche, als hätte er nicht gehört, was sie gesagt hatte. Aber dann begriff er.
«Keine Kuchen mehr? Wirklich nicht?»
«Tut mir leid, Jack. Ich weiß, der Zeitpunkt ist ungünstig, jetzt, wo der Winter vor der Tür steht, aber …» Sie stockte und wirkte ausnahmsweise verlegen.
«Wir könnten mit dem Preis runtergehen, falls euch das etwas nutzt», sagte er. «Wir brauchen jeden Penny, den wir kriegen können.»
«Tut mir leid. Kann ich dir einen Kaffee und was zum Frühstück anbieten?»
«Kaffee wäre prima.» Er wählte einen Tisch an einem kleinen Fenster, das auf den Fluss hinausging.
«Geht aufs Haus», sagte sie und stellte ihm die Tasse hin.
Er war nie geblieben, wenn er die Kuchen in die Stadt brachte, aber heute Morgen zog es ihn nicht zu seinem Gehöft zurück. Was sollte er Mabel sagen? Dass sie einpacken und mit eingezogenem Schwanz heimkehren müssten? Aufgeben wie so viele vor ihnen? Er rührte Zucker in den Kaffee und sah aus dem Fenster. Ein Mann in ausgelatschten Lederstiefeln, dessen Aussehen staubverkrustete Berglager heraufbeschwor, ging am Flussufer entlang. Er hatte einen Schlafsack auf den Rucksack geschnallt, führte einen struppigen Husky am Strick und hielt in der anderen Hand ein Jagdgewehr. Hinter ihm sah Jack die von weißem Dunst verhüllten Berggipfel. In den Bergen schneite es. Bald würde es auch hier im Tal schneien.
«Hör mal, in der Mine suchen sie Arbeiter.» Betty schob ihm einen Teller Eier mit Speck hin. «Würde man sich wohl nicht gerade als Beruf aussuchen, könnte einem aber durch einen Engpass helfen.»
«Die Kohlenmine im Norden?»
«Ja. Sie zahlen nicht schlecht, und sie machen weiter, solange sie die Bahngleise frei halten können. Sie stellen Verpflegung und Unterkunft und schicken einen mit ein bisschen zusätzlichem Geld in der Tasche nach Hause. Ist vielleicht ’ne Überlegung wert.»
«Danke. Auch hierfür.» Er deutete auf den Teller.
«Gern geschehen.»
Eine elende Schufterei war das, der Kohlenbergbau. Bauern waren für Licht und Luft geboren, nicht für Stollen, die man durch Felsen getrieben hatte. Zu Hause hatte er Männer aus den Minen zurückkehren sehen, die Gesichter schwarz von Kohlenstaub, und sie husteten verschmutztes Blut. Selbst wenn er den Willen und die Kraft dazu aufbrächte, er müsste Mabel Tage, vielleicht Wochen am Stück auf dem Gehöft allein lassen.
Aber sie brauchten dringend bares Geld. Ein, zwei Monate könnten genügen, um sie bis zur nächsten Ernte durchzubringen. Für ein, zwei Monate konnte er so gut wie alles auf sich nehmen.
Er aß den letzten Happen Speck und wollte gerade aufbrechen, als George Benson lärmend durch die Tür der Gaststätte kam.
«Betty, Betty, Betty. Was hast du heute für mich? Einen von diesen Kuchen?»
«Frisch vom Gehöft, George. Setz dich, ich bring dir ein Stück.»
George drehte sich zu den Tischen um und erspähte Jack.
«Ah, guten Tag, Nachbar! Ich sag dir was – deine Frau backt einen fabelhaften Apfelkuchen.» Er warf seinen Mantel über eine Stuhllehne und klopfte sich auf den rundlichen Bauch.
«Was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?»
«Nur zu.»
George wohnte mit seiner Frau und den drei Söhnen ungefähr fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt, in entgegengesetzter Richtung von Jacks und Mabels Gehöft. Jack war ihm ein paarmal im Gemischtwarenladen und hier in der Gaststätte begegnet. Er schien ein
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