Das schönste Wort der Welt
ständiges Rauschen darin, wie das
reißende Meer. Sie lächelte und sagte Das ist das Ohr der Geschichte .
Ich gehe weiter.
Möchte stolpern, stolpere aber nicht. Möchte mich in den Sand legen, ihn
umarmen und mich bei jemandem bedanken oder bei etwas, bei einer
vorbeikrabbelnden Ameise, dem unendlichen Weg sämtlicher Leben.
Der Körper meines
Sohnes hüpft im Gegenlicht, er boxt in die Wellen. Er ist das kleine Kind, das
mit dem jungen Mann rangelt und zu ihm sagt Lass mich noch einen Tag spielen .
Er kommt aus dem
Wasser, wirft sich in den Sand und läuft wieder auf die Wellen zu.
»Wie ist es?«, rufe
ich ihm zu.
»Besser als vor
Sardinien.«
Er bittet mich, mit
dem Handy ein paar Fotos von ihm zu schießen, er will seinen Freunden dieses
tiefblaue Meer zeigen. Sagt Die sollen platzen vor Neid .
Er baut sich mit den
Händen in den Hüften auf, lächelt mit krausgezogener Nase und verdeckten Augen,
weil ihn die Sonne blendet.
Ich gehe bis zu den
Knien ins Wasser und fotografiere ihn beim Springen. Seinen Körper in der Luft
und Spritzer von weißem Meer.
Er hat sich vorn am
Wasser auf den Strand geworfen, sein Kopf ist voller Sand, seine Locken sehen
aus wie die einer Meeresstatue. Er dreht sich um und sagt: »Ma, ich habe mir
den Fuß gestoßen. Hast du ein Pflaster?«
Ich wühle in meiner
Handtasche, wühle wie eine Verrückte, mit dem Wind, der mir die Haare in die
Augen schleudert. Ich klappe meine Brieftasche auf und suche das Pflaster, das
ich zwischen den Geldscheinen immer bei mir habe.
Ich habe es für ihn
dabei, weil er sich ständig stößt, es ist eine alte Gewohnheit, so alt wie
unsere Gewohnheit, Mutter und Sohn zu sein und gemeinsam spazieren zu gehen.
Pietro wartet, er
sucht mit den Augen zusammen mit mir, er stöbert in meinen wirren Bewegungen.
Ich finde das Pflaster, und mir ist, als hätte ich Wunder was gefunden. Auch er
lächelt.
»Hast du’s?«
»Ja, ich hab’s.«
Er hält mir den Fuß
hin, er ist voller Sand. Er ist gegen eine Klippe gestoßen, ein Stück des Zehnagels
ist abgerissen, es blutet.
»Spül das im Meer
ab.«
Er will nicht
aufstehen, es tut ihm weh.
Ich beuge mich
hinunter. Sauge mit dem Mund das Blut und den Sand ab. Trockne seinen Fuß,
indem ich ihn mit einem Zipfel meines Rocks betupfe.
Das Pflaster klebt
schlecht, weil der Zeh noch etwas feucht ist, und sowieso finde ich meine
Brille nicht. Pietro beschwert sich nicht, er sagt sogar Danke .
Wer bist du? Wie oft
sollte ich mich das fragen. Wie oft sollte ich dich argwöhnisch anschauen. Du
lachst, wie Diego lachte, wie Jungen eben lachen. Du bist dumm und klug, bist
harmlos und gefährlich. Du bist eine Möglichkeit unter Millionen. Ein Junge aus
dem Jahr 2008, geboren Ende Dezember 1992 in Sarajevo. Du bist eines der ersten
Kinder nach den Vergewaltigungen im Zuge der ethnischen Säuberungen.
Er atmet tief durch.
Liegt auf der Seite, träge wie ein ans Ufer gezogenes Boot, sein knochiger
Hintern steckt in einer Badehose, wie australische Surfer sie tragen. Er dreht
sich um, ich betrachte seinen abgebrochenen Zahn und seine zu mageren Wangen.
Er atmet tief durch.
Aus wie vielen Teilen
besteht so ein Körper? Aus der Falte, wo ein Ohr ansetzt. Den Umrissen einer
Faust. Einem Auge mit den sich bewegenden Wimpern. Dem Knochen eines Knies. Körperhaaren,
wie verblasstes Gras.
Ich betrachte die
Teile meines Sohnes. Vielleicht habe ich es schon immer gewusst, das ist wahr.
Und ich wollte es nie wissen. Du bist frei , müsste ich ihm sagen, du bist nicht sein Sohn. Du bist der Sohn
eines Haufens hasstrunkener Teufel .
Er hüpft auf einem
Bein und stützt sich auf mich.
»Pass auf, ich kann
dich doch gar nicht halten.«
»Doch, das schaffst
du, das schaffst du schon.«
Ich erkenne einiges
wieder, den Fischladen, der wie früher aussieht, mit seinem Vorhang aus
Plastikstreifen gegen die Fliegen. Dann einen Busch wilder Geranien, baumhoch.
Pietro hat mir gesagt Ich
will da hin. Ich will zu der Stelle, wo Papa gestorben ist . Plötzlich nennt er ihn Papa , und ich finde das alles reichlich absurd.
Ich laufe hinter
dieser Lüge her. Pietro klettert schweigend.
Aska hat mir die
Stelle gezeigt, es ist nicht schwer, dort ist nur dieser eine große Felsen, er
sieht aus wie der Kopf eines Dinosauriers mit aufgesperrtem Maul.
Diego hat sich in
dieses Maul gestellt.
Aska sagte Er wollte zu dir zurück, er war schon
reisefertig .
Dann kletterte er
hoch.
Es war das richtige
Licht, kurz vor Sonnenuntergang.
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