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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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bewegten sich unruhig hin und her.
    Genau in diesem Moment hupte ungeduldig ein Auto vor dem Tor. »Mama, komm! Papa muss nach Hause!«, rief Dorits Sohn.
    Dorit wurde rot. »Nur noch einen Moment«, rief sie.
    Ich spürte, dass es ihr schwerfiel, sich zu verabschieden.
    Das Hupen hatte Bracha wieder munter gemacht, sie brach erneut in einen Redeschwall aus, entschuldigte sich noch einmal, dass sie es vermutlich nicht schaffen würde, während der Schiwa einen Kondolenzbesuch zu machen, erklärte, sie müsse wieder zurück zur Arbeit, sie habe wirklich   – aber wirklich   – viel zu tun, denn seitdem sie ihre Stelle als Lehrerin für Geschichte und Werken aufgegeben habe, würde sie im Shoah-Archiv für anderthalb arbeiten. »Und wenn es nötig ist, bin ich auch die Adjutantin des Vorsitzenden«, fügte sie stolz hinzu. »Bestimmt freut ihr euch auch, wenn wir uns mal wieder treffen, wie früher!« Begeistert von dieser Aussicht, versicherte sie: »Für euch werde ich schon Zeit finden.« Sie nahm den Rucksack ab, zog ein zerknittertes Heft heraus und notierte unsere Telefon- und Faxnummern sowie unsere Mail-Adressen.
    Ich spähte in ihre mobile Rumpelkammer.
    »Alles von der Shoah«, sagte sie mit leuchtenden Augen. »Du glaubst nicht, was ich über ihre Mutter herausgefunden habe«, flüsterte sie plötzlich, mit einem Seitenblick zu Dorit. »Ich habe ihren Zeugenbericht in Yad Vashem gelesen, was für eine Shoah hatte sie, das ist eine Geschichte, ich sage dir, was für eine Geschichte.«
    Dorits Blick war in die Ferne gerichtet. Sie hatte es gehört, aber sie wollte es nicht hören.
     
    Nach dem Besuch bei ihren Freunden kehrte Golda zu uns zurück.
    »Ich habe euch so lange nicht gesehen«, sagte sie, schaute dabei aber nur mich an. »Wann kommst du mal zu Besuch?« Auch diese Frage galt nur mir. Sie sah mich an und packte mich fest am Oberarm, genau wie früher.
    »Jemand soll es ihr doch endlich sagen!« Plötzlich erinnerte ich mich an ihren Ausruf, und mein Herzschlag setzte kurz aus, genau wie damals, wie vor über vierzig Jahren, als ich Schmulik nach meinem Vater gefragt hatte.
    Bracha hatte es eilig, zur Arbeit zurückzukehren, sie drängte ihre Mutter zum Gehen. Erst da konnte ich wieder durchatmen.
    »Ich schwöre bei Gott, ich werde Dokumente über Fejge finden«, versprach sie Dorit, bevor sie ging. Auch mich beehrte sie mit einem Versprechen. »Und auch welche zu deiner Mutter und sogar zu deinem Vater.«
    Schwäche überkam mich. Angespannt versuchte ich den Riss in mir zu schließen, aus dem die Erinnerung hochstieg, ich wollte alle Erinnerungen wegdrängen.
    Ich wurde rot, ich schämte mich, ich wandte den Kopf von Dorit weg und betrachtete das Viertel jenseits der Straße. Ich sah Bracha und Golda hinterher, beobachtete, wie sie in Richtung ihres Hauses im Viertel liefen. Ich konnte den Blick nicht von ihnen abwenden.
    »Kröte«, sagte Dorit. So hatten wir Bracha früher genannt.
    »Ja, Kröte«, wiederholte ich zerstreut.
    Dann brach die Frage, die mir so zusetzte, aus mir heraus: »Aber warum ist mein Vater nicht hier begraben, mit allen anderen?«
    Dorit ignorierte die Frage, vielleicht hatte sie sie auch nicht gehört, und deutete mit dem Finger auf Bracha, die sich immer weiter entfernte. »Schau sie dir an«, murmelte sie, »alles in allem ist sie ein bedauernswertes Geschöpf. Bald gehen ihr die Leute im Viertel aus, bald geht ihr die Vergangenheit aus. Wer kommt denn noch zu Besuch ins Viertel? Nachdem meine Mutter gestorben ist und Fejge das Viertel verlassenhat, habe ich diese Straße nicht mehr überquert, seitdem bin ich nicht mehr im Viertel gewesen. Zehn Jahre, ja, zehn Jahre   …«
    »Ich bin in diesem Jahrhundert noch nicht dort gewesen. Meine Mutter ist, wie Bracha gesagt hat, noch vor Beginn der Zeitrechnung gestorben.« Ich lächelte mühsam.
    Wir schauten weiter Bracha und Golda hinterher, bis sie in den kleinen Weg einbogen, der zu ihrem Haus führte, und sie nicht mehr zu sehen waren.
    Dorit riss mich aus meinen Gedanken. »Also, wann kommst du zu mir?« Mit diesen Worten zerbrach sie den Status quo zwischen uns und den Status quo in mir. Seit wir unseren Kontakt erneuert hatten, war ein solcher Vorschlag noch nicht auf der Tagesordnung aufgetaucht. Zwischen uns bestand eine stillschweigende Übereinkunft, die Gegenwart aus unserer Freundschaft herauszuhalten. Sie besuchte mich nicht, ich besuchte sie nicht.
    Plötzlich prasselten von allen Seiten Einladungen auf

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