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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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Umleitung folgen.« Wieder und wieder las ich das Schild und erschrak. Mir wurde klar, dass ich nun, ob ich wollte oder nicht, durch unser altes Viertel fahren musste. Ich wendete.

    »Ich gehe in mein Sommercamp«, hatte ich meiner Mutter am frühen Morgen zugerufen. Sie hatte nicht geantwortet, sie hatte überhaupt nicht reagiert, sie saß schweigend da, mit einer Kaffeetasse und einer polnischen Zeitung vom Vortag.
    Ich floh zu meinem Baum, zu meiner Überraschung traf ich dort auf Dorit. Sie teilte mir mit, dass sie nun, nach dem Auftritt ihrer Mutter im Autobus, bei mir bleiben würde. Dann schlug sie vor, wir sollten uns in die nahe Allee zurückziehen, die außerhalb von Fejges täglicher Spazierroute lag, dort wären wir vor ihr sicher.
    Ich nahm den Vorschlag an. In der Allee setzten wir uns aufdie Bank unter der großen Pinie und starrten in die Gegend, auf den Sandkasten, die leeren Schaukeln, die müden Straßenkatzen, die in den Mülleimern nach Essensresten suchten. Vier Tage verbrachten wir so, wir saßen auf der Bank in der Allee, starrten in die Gegend und nichts tat sich, es war nur heiß, heiß und feucht. Wir hatten nichts, worüber wir uns unterhalten konnten. Ich betete insgeheim darum, dass Dorit in das Sommercamp ihres Vaters zurückgehen würde. Ich sehnte mich danach, allein zu sein, zu meinem Baum zurückkehren, wieder in die Höfe und die Zimmer der Leute spähen und von meinem Vater träumen zu können.
    Aber Dorit blieb an mir kleben. Sie erschien jeden Morgen in der Allee, setzte sich auf die Bank, starrte auf das Ameisennest darunter und schlug am fünften Tag sogar vor, wir sollten über die Ameisen eine Reportage für die Kinderzeitung schreiben.
    Wie kann sie so einfach auf das Egged-Sommercamp verzichten?, wunderte ich mich. Und dann noch die blöde Idee mit den Ameisen   – eine Reportage über Ameisen, wer interessierte sich denn für so etwas?
    Diesmal konnte Dorit meine Gedanken nicht lesen. Sie schlug vor, wir sollten beschreiben, wie die Ameisen in einer langen, gewundenen Reihe marschierten und fadendünne Pfade in den trockenen Sand zogen. Sie schämte sich nicht, mir weismachen zu wollen, dass es keine interessanteren Insekten als Ameisen gäbe.
    Irgendwie tickt sie nicht mehr richtig, dachte ich.
    Ich wollte aufstehen und weggehen. Genau in diesem Moment tauchte von irgendwoher Bracha Poschibuzki auf. Sie ließ sich neben uns auf die Bank fallen und berichtete uns aufgeregt, ihre Mutter habe ihr erzählt, dass es auf der Welteinen Ort gegeben hatte, den man »Shoah« nannte, dort hatten sechs Millionen Juden gewohnt, und die Deutschen hatten sie mit Gewalt weggeholt, ausgezogen, ihnen die Haare abrasiert und sie an einen Ort geschickt, der Krematorium genannt wurde, dort hatte man sie bei lebendigem Leib verbrannt, und alle Juden stiegen durch den Schornstein zum Himmel hinauf und sie hatten keine Gräber. »Sechs Millionen und nicht ein einziges Grab«, betonte sie.
    Ich fing Feuer: Zum ersten Mal erzählte mir jemand etwas von der Shoah.
    »Alle wissen, dass Bracha spinnt«, flüsterte mir Dorit zu.
    Bracha hatte es gehört. »Ich spinne nicht! Frag deine Mutter, dann wirst du schon sehen!« Sie streckte ihren Kopf ganz nahe zu Dorit.
    »Du stinkst aus dem Mund!«, schrie Dorit und stieß sie weg.
    »Sechs Millionen Juden haben diese Mistkerle verbrannt«, beharrte Bracha und rief laut: »Sechs Millionen bei lebendigem Leib verbrannt!«
    »Sie hat wieder Brot mit Margarine und Knoblauch gegessen«, beschwerte sich Dorit wütend.
    »Stimmt nicht«, fauchte Bracha besiegt und lief weg.

    Nach über fünfzehn Jahren fuhr ich erstmals wieder die Hauptstraße des Viertels entlang. Es ist verboten, den Wagen zu verlassen. Es ist verboten, das Fenster zu öffnen. Es ist verboten, die Hand aus dem Fenster zu strecken. Vorsichtsregeln schossen mir durch den Kopf. Wie bei einer Safari: Man muss Löwen und Tigern, die den Weg kreuzen, denVortritt lassen. Aber nur Autos waren unterwegs, die Straße war menschenleer. Im Vorbeifahren fiel mein Blick auf Chajales Haus.

    Nachdem Bracha beleidigt abgezogen war, waren Dorit und ich damals allein in der Allee zurückgeblieben. Sie fing wieder mit den Ameisen an, aber ich hörte ihr nicht zu. Brachas Shoah ließ mir keine Ruhe. Meine Gedanken schwirrten wild durcheinander. Meine Mutter und mein Vater sind wahrscheinlich auch dort gewesen, in der Shoah, dachte ich.
    Ich wollte, dass Dorit den Mund hielt, ihre Ameisen interessierten mich

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