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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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nicht.
    Ich suchte nach einem Ausweg. In der Ferne sah ich Chajale im Hof spielen.
    »Komm, lass uns zu Chajale gehen«, schlug ich vor.
    »Bracha war doch schon mehr als genug«, sagte Dorit wütend.
    »Was hat das mit Chajale zu tun?«, fragte ich verwundert.
    »Mit Chajale spiele ich nicht«, flüsterte sie mir ins Ohr.
    Ich verstand nicht, was Dorit gegen Chajale hatte. Chajale war zwar langweilig und normalerweise ging sie mir auch auf die Nerven, doch ich dachte bei mir, eine Balletttänzerin sei einer Ameisenforscherin entschieden vorzuziehen. Und insgeheim hoffte ich, das Ganze würde so ausgehen, dass Dorit und Chajale miteinander spielten und ich beide los wäre.
    »Was, weißt du nicht, dass Chajales Mutter eine
kurve
ist?«, fragte Dorit.
    Obwohl ich dieses Wort schon oft gehört hatte, wusste ich nicht, was es bedeutete.
    »Eine
kurve
«, erklärte Dorit, »ist eine Frau wie Gitl, die zwei Männer hat.«
    »Na und?«, sagte ich. Diese Erklärung reichte mir nicht.
    »Was heißt da: na und?«, fuhr mich Dorit wütend an. »Meine Mutter erlaubt mir nicht, mit ihr zu spielen, und meine Mutter erlaubt mir auch nicht, zu ihr zu gehen.«
    Ich schaute Dorit mit aufgerissenen Augen an.
    »Chajale wohnt in einem Bordell«, fügte sie als Grund hinzu und flüsterte: »Bordell, das ist ein Haus von Huren.«
    »Chajale wohnt in der Blut-der-Makkabäer-Straße«, entgegnete ich.
    Chajale lernt Ballett und hat ein Klavier, wiederholte ich für mich die Vorzüge, die meine Mutter mir aufgezählt hatte. Meine Mutter hatte auch gesagt, Gitl Fink sei eine tüchtige Frau, die in aller Frühe das Haus verlasse, zu einer reichen Familie im Norden von Tel Aviv fahre, den Leuten die Wohnung putze und abends mit einer Tasche voller Überraschungen zurückkomme zu Chajale, ihrer Tochter, und zu Jona und Jissachar, ihren Ehemännern.
    »Das ist mir doch egal, Bordell oder
kurve
, jede Arbeit macht dem Menschen Ehre«, zitierte ich einen Spruch meiner Mutter. Ich stand auf und machte mich auf den Weg zu Chajale.
    Dorit lief hinter mir her. Ich ignorierte sie und lud Chajale ein, sich uns anzuschließen.
    »Ich muss noch üben«, sagte Chajale und ging ins Haus.
    »Siehst du?« Dorit genoss ihren Sieg. »Nur ich und du, das ist am besten. Nur wir beide, die besten Freundinnen.«
    »Was heißt das: beste Freundinnen?«, fragte ich gereizt.
    »Freundinnen ohne Geheimnisse«, antwortete Dorit.
    »Wir haben also keine Geheimnisse?« Diese Vorstellung erschreckte mich.
    »Natürlich nicht.« Sie zuckte nicht mit der Wimper.
    Ich hatte Angst, ich müsste ihr erzählen, dass ich den Hund, den ich adoptiert hatte, nach ihrem Vater Schmulik genannt hatte.
    »Schwöre es.« Ich verlangte eine Sicherheit.
    »Meine Mutter soll in Hitlers Grab sterben, wenn ich ein Geheimnis habe. Und jetzt du.«
    So eine Lügnerin! Fejge, ihre Tante, wusste alles, auch ihre Mutter und ihr Vater wussten, wo mein Vater war, bestimmt hatten sie es ihr verraten. Diesen Gedanken behielt ich für mich.
    »Nun, schwör schon«, drängte Dorit.
    »Meine Mutter soll ersticken«, schwor ich trotz meiner Bedenken.
     
    In jener Nacht erschrak ich vor dem Schwur, den ich geleistet hatte, ich hatte Angst, meine Mutter würde ersticken.
    In jener Nacht herrschte, anders als in allen anderen Nächten, Stille in ihrem Schlafzimmer.
    »Mame!«
, schrie sie sonst jede Nacht,
»mame, mame!«
    In jener Nacht war es die Stille, die mir Angst machte. Ich sprang aus dem Bett und spähte in das dunkle Zimmer.
    Meine Mutter lag auf dem Rücken, ihre Hände hingen auf beiden Seiten des Bettes herunter wie mit Gewichten beschwert, bewegungslos, leblos. Ihre Lider waren halb geöffnet, ihr Mund stand offen.
    »Mama!« Ich schüttelte sie. »Mama!«
    Sie reagierte nicht.
    Etwas war ihr passiert, ich zitterte. So sahen die Toten von der Shoah aus.
    Bestimmt war sie erstickt. Ich wollte um Hilfe rufen.
    Auf der Kommode neben ihrem Bett sah ich eine Tüte mit Medikamenten und ein halb volles Wasserglas.
    Völlig erstarrt stand ich da, und erst als sie den Kopf bewegte und seufzte, floh ich zurück in mein Zimmer. Ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass ich, wenn sie morgen früh nicht aufstünde, zur Huberman-Straße 6 gehen würde, zu meinem Onkel.
    Schließlich war ich nicht allein in der Welt.
     
    »Schau dir die Blüten an«, hatte meine Mutter gesagt und auf die Ficusbäume in der Rothschild-Allee geblickt. Sie hatte das Autobusfenster aufgemacht und tief die hereindringende Luft

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