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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Schrott
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Strangulationsspuren erklären zu können. Als Todesursache wurde Genickbruch bestimmt, der offenbar aus einem Stoß gegen das Metall der oberen Bettkante resultierte. Es ist eine Eigenart der menschlichen Anatomie, dass der Hals eine extreme Fragilität aufweist: ein geringer Schock auf die Knorpel und Knöchelchen genügt, um zum Tode zu führen. Das Verfahren wurde schließlich eingestellt; wenige Monate später ließ sich Ihr Vater bei uns einweisen.
    Nach dem Verscheiden Ihres Vaters war es an mir, seine Hinterlassenschaft zu sichten. Dabei stieß ich auf den an ihn adressierten Brief eines Freundes, Louis A., aus dem ich Ihnen folgende Zeilen zitieren möchte:
    Es war ein Unfall. Sie lag ausgestreckt auf dem Bett; ich massierte ihr Hals und Nacken, so wie ich es immer machte, wenn sie unter Migräne litt. Von da an weiß ich nur mehr, dass ich meine beiden Daumen in die Kuhle neben ihrem Brustbein drückte, um sie langsam hinauf zu ihren Ohren zu ziehen. Ich zog sie im V die verhärteten Muskeln hinauf, meine Arme bereits müde, ihr Gesicht friedlich und heiter, die Augen zur Decke gerichtet. Und da erschrak ich: ihr Blick war starr geworden, ausdruckslos, die Zungenspitze schmal und rot zwischen den Zähnen. Ich versuchte vergeblich, sie wiederzubeleben, und lief dann einfach aus dem Zimmer. Ich weiß, dass ich mir von Dir kein Verzeihen erhoffen kann. Dass ich Dich damit der öffentlichen Bloßstellung in einem Verfahren aussetzte, obschon es bald im Sande verlief, ist unentschuldbar. Und auch, dass ich keine befriedigende Erklärung vorzubringen imstande bin. Zwar kann ich nicht die Folgen auf mich nehmen, die Verantwortung dafür aber schon.
    Ich habe diesen Brief an die zuständige Behörde weitergeleitet. Da Louis A. jedoch kurz nach diesen Zeilen – ein Jahr vor dem Ableben Ihres Vaters – Selbstmord beging, sah man davon ab, das Verfahren neu aufzurollen. Dennoch verletze ich meine Schweigepflicht nicht, wenn ich Ihnen diesen Auszug übermittle. Ich sehe es als ein moralisches Gebot, Sie darüber zu informieren, um die von Ihrem Vater in seinen Schriften gegen sich selbst erhobenen Anschuldigungen zu relativieren – auch deshalb, weil er offensichtlich von diesem Geständnis wusste. Dass er es nicht zur Kenntnis nehmen wollte, ist wohl seiner Depression zuzuschreiben. Seinen Aufzeichnungen ist deshalb nicht überall zu trauen; das zeigt sich bereits an den Dingen, die ein Vater seiner Tochter nie beichten dürfte. Andererseits: wenn er von Ihnen sprach, dann tat er das, um – ich übernehme hier seine Wortwahl – einen Angelpunkt zu erhalten und Klarheit über sich zu erlangen.
    Dieses Wissen müsste Ihnen die Zeilen Ihres Vaters in anderem Licht erscheinen lassen: es nimmt einiges von dem Schatten, in dem Ihr Vater sich sah. Ich habe ihn als sehr sensiblen Menschen kennengelernt und kann sagen, dass er sich stets nur liebevoll über sie (und des Öfteren auch über Ihre Mutter) geäußert hat, ohne dass es leere Worte gewesen wären. Der Klang Ihres Namens ist mir heute mit seiner Stimme verbunden: Isa.
    Ich bin gerne erbötig, Ihnen in einem persönlichen Gespräch Näheres zu berichten, und verbleibe, hochachtungsvoll
    Roland Debray

Über den Autor
    Raoul Schrott
    Raoul Schrott, 1964 geboren, wuchs in Tunis und Landeck / Österreich auf. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Mainzer Stadtschreiber-Preis und den Joseph-Breitbach-Preis (beide 2004). Bei Hanser erschienen u.a.: Gilgamesh (Epos, 2001), der Roman Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde (2003), Homers Heimat (Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe, 2008), die Neuübertragung der Ilias (2008) und zuletzt Die Blüte des nackten Körpers (Liebesgedichte aus dem Alten Ägypten, 2010). Raoul Schrott lebt in Österreich.
    Daten, Fakten, Jahreszahlen
    1964 geboren in Landeck / Tirol
    Studium der Literatur- und Sprachwissenschaft in Norwich, Paris, Berlin und Innsbruck
    1986-87 Sekretär von Philippe Soupault
    1990-93 Lektor im Fachbereich Germanistik / Istituto Orientale, Neapel
    1997 Habilitation am Institut für Komparatistik, Innsbruck
    1997 erscheint das Buch: Die Musen. Über den Musenkult am Helikon
    2008-09 Samuel-Fischer-Gastprofessor an der Freien Universität Berlin
    Der Autor lebt in Österreich.
    Bibliographie
    Im Carl Hanser Verlag sind erschienen
    1998 Tropen. Über das Erhabene
    1999 Jorge Luis Borges. Der Geschmack des Apfels. Gedichte, ausgewählt und mit einem Nachwort von Raoul Schrott
    2000

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