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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Schrott
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hat mich nach einem Schweden benannt, der mit einem Ballon zum Nordpol gelangen wollte. Die Nachricht von der Entdeckung seiner Leiche und denen seiner beiden Gefährten ging in den 30er Jahren rund um die Welt; die Unternehmung hatte meinen Vater in seiner Jugend derart beeindruckt, dass er mich schließlich auf den Namen des ›Ingenieurs Andrée‹ taufte. Mehr als das Staatsbegräbnis, das man ihnen zuteilwerden ließ, und die Verehrung, die man ihnen als Lichtgestalten des wissenschaftlichen Fortschritts erwies, bewunderte er wohl, dass der Schwede sich aus engen Verhältnissen hochgearbeitet hatte, um sich seinen Traum zu erfüllen, und dabei stets für soziale Verbesserungen eingetreten war. Man denke nur, der kleine Angestellte eines Patentbüros! Und am Schluss noch frohen Mutes, obwohl es ans Sterben ging!
    Mein Vater meinte damit auch sich selbst, seine damalige auf Autarkie, soziale Gerechtigkeit und Gottesfürchtigkeit aufgebaute Kooperative in der Branau. Ich versuchte auf meine Art, es dem schwedischen Ingenieur gleichzutun. Auf unserem Hof am Rande des Schwarzwaldes nagelte ich deshalb einen Korb zusammen und baute einen alten Gasherd ein, meine Mutter nähte mir eigenhändig Tuchfahnen zusammen, aber natürlich füllte sich diese Montgolfiere nicht mit Luft; was zählte, war die Arbeit daran.
    Andrée war aufgestiegen, ja: zu diesem Zweck hatte er am Boden nachzuziehende Schleppleinen erfunden, welche den Ballon langsamer als den Wind halten sollten, um ihn wie ein Luftschiff manövrierfähig zu machen. Kurz nach dem Start zogen die Schleppleinen ihn jedoch hinab, sodass der Korb ins Meer tauchte, oder sie verhedderten sich am Grund, verdrehten sich ineinander und lösten sich aus den Verschraubungen, worauf der Ballon viel zu hoch stieg, übermäßig Gas verlor, vereiste und, von den Strömungen der Luft abgetrieben, allzu bald landen musste. Auf einer Scholle driftete Andrée dann bis zur Weißen Insel, wo er wie ein homerischer Held seine letzte Ruhestätte fand, Oberkörper und Reste des Unterleibs dreißig Jahre später fast vollständig erhalten.
    Und so wie ich hatte auch Andrée trotz des sich abzeichnenden Fiaskos seine Brieftauben abgeschickt mit der Meldung ›Wetter wunderbar, Stimmung hochgemut‹; wie bei mir stellte sich die Vorstellung, durch Schleppleinen sein Leben gegen den herrschenden Wind lenken zu können, als illusorisch heraus. Er verhungerte in Sichtweite der Bäreninsel an der kalten Küste Svalbards.
    Eine seltsame Gleichung: Ich ist X. Die Metapher, zu der man sich sein Leben lang hinarbeitet; nomen est omen. Dein Vorname ist das einzige, was ich dir mitgeben konnte. Deiner Mutter habe ich ihn als Abkürzung von Isabella präsentiert, damit sie zustimmte: die ewig Schöne – das gefiel ihr, vielleicht weil sie darin auch Isolde heraushörte, die tragische Geliebte, an der die Männer Schiffbruch erleiden.
    Ich jedoch wollte, sobald du alt genug warst, zusammen mit dir die Fahrt zum Ort, dessen Namen du trägst, unternehmen, hinauf in jenen hohen Norden, den ich immer mit der Stimme meines Vaters in Verbindung bringe, die Nähe, die er zuließ, wenn wir uns beide über den Tisch beugten, wo er aus Illustrierten gerissene Artikel ausgebreitet hatte, um die Fotos zu studieren, die Karte daneben, um sie dann in seinem Zettelkasten abzulegen: weil er nie das Geld haben würde, dorthin zu reisen, hatte er fast von jedem Ort Islands eine Ansicht zusammengetragen.
    Wir hätten die Fähre von Dänemark über die Färöer genommen, bis sich uns endlich beim Blick durch das Bullauge die Insel am Horizont abzeichnete, immer massiver aus den Wolken ragend. So hätte ich sagen können: das bist du. Dieses Land, das zwei Kontinentalschollen angehört, die jedes Jahr weiter auseinanderdriften, gleich dir und mir, diese Insel da mit ihren Geysiren und Vulkanen, den Eisbergen und Gletschern, mit ihrem einen Tag und ihrer einen Nacht, ihrem Sternenhimmel und der nicht untergehenden Sonne, den Bären und allem Gevögel: Silber- und Raubmöwen, rotkehligen Tauchern, Lummen und Alke, Tölpel und Schwänen, Steinbrech auf der bunt verwitterten Lava, Flechten und Moose, Leimkraut und violett blühende Lupinen. Selbst in totem Gestein hält sich Leben und trotzt, den Birken gleich mit ihrem weichen weißen Bast, ihren viel zu grünen feinen Blättern, dem dünnen biegsamen Geäst, um sich gegen den Wind zu erheben. Und dann die Höfe und Siedlungen, wie sie sich der Natur nach ordnen, am Rande

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