Das siebte Kreuz
Sie sah ihn starr an mit ihrem trocknen, gesunden Auge, das jetzt so schwarz war, daß die Pupille darin verschwand und dadurch gar zu groß erschien. Sie zog ein Spiegelchen heraus, stellte es gegen das Glas und zog ihr Haar zurecht.
»Komm, Lotte«, sagte Franz, »es ist ja noch früh am Tag, geh noch ein Stück mit heraus zu meinen Leuten.« – »Bist du verheiratet, Franz, hast du Eltern am Ort?« – »Keins von beiden, nur Verwandte. Ich bin so gut wie allein.«
Sie stiegen schweigend die Straße hinauf, fast eine Stunde lang. Das Kind störte sie nicht. Es lief voraus, von dem Wunsch erfaßt, immer höher zu steigen. Denn es kam selten aus Höchst heraus. Nach Minuten blieb es kurz stehen, um zu sehen, wieviel Land sich dort unten entfaltet hatte und mit dem Land auch der Himmel. Wenn man nur hoch genug kam, dachte das Kind, dann müßte man statt neuer Dörfer und Äcker etwas ganz anderes sehen, das Ende von allem, wo die Wolken herauskamen und der Wind, der mit dem gelben Nachmittagslicht eins war, etwas, was sich nicht weiter entfalten ließ.
Franz sah schon Mangolds Haus. Er hatte noch kein Wort mit der Lotte gesprochen, aber es war auch nicht nötig, zu sprechen, sondern störend. Er kaufte dem Kind eine Waffel am Selterwasserhäuschen und der Lotte eine Tafel Schokolade. Wie sie in Marnets Küche kamen, blieb der Auguste der Mund offen. Alle beglotzten den Franz, die Lotte, das Kind. Lotte begrüßte sie ganz gelassen. Sie half gleich beim Geschirrspülen. Von dem tischgroßen Apfelkuchen war leider nur noch ein krustiges Randstück übrig. Dieses Stück bekam das Kind in die Hand, mit der Erlaubnis, die blaue Glaskugel auf dem Asternbeet zu betrachten. In der Küche saß noch alles um den leeren, sauber gescheuerten Tisch. Ernst, der die Lotte unverwandt betrachtete, ärgerte sich, obwohl sie ihm eher mißfiel, daß der Franz, der verschlafene Franz, nun also doch ein Frauenzimmer im Hinterhalt hatte. Die Frau Marnet brachte dann später ihre Zwetschenlikörflasche. Alle Männer tranken ein Gläschen, von den Frauen tranken die Lotte und die Eugenie.
Das Kind hatte inzwischen die Gartentür aufgemacht und war auf die Wiese gegangen. Es blieb unter dem ersten Apfelbaum stehen. Das Kind von Lotte und von dem Herbert, den man totgeschlagen hat.
Zuerst sah das Kind nur den Stamm, es zog seinen Finger durch die Riefen. Dann legte es seinen Kopf zurück. Die Äste drehen und winden sich und bohren sich mächtig in die Luft, und doch steht das ganze Geäst still. Auch das Kind steht still. Die Blätter, die jetzt von unten schwarz aussehen, bewegen sich alle unaufhörlich ein wenig, und durch die Lücken scheint der Abendhimmel. Ein einziger schräger Sonnenstrahl schießt durch das Geäst und trifft genau etwas Goldnes, Rundes.
»Da hängt noch einer«, schreit das Kind.
In der Küche springen sie alle auf, weil sie denken, wunder was passiert ist. Sie rennen hinaus und gucken alle hinauf. Dann wird die Obststange gebracht. Weil das Kind noch zu schwach ist, führt man ihm seine Hand, die die schwere Stange festhält wie einen riesigen Griffel. Jetzt hakt es, der Apfel bumbelt, guten Abend, Apfel.
»Du darfst ihn mitnehmen«, sagte Frau Marnet, die sich sehr üppig vorkommt.
5
Fahrenberg stellte sich vor die Kolonne, die am Sonntag um sechs Uhr antrat wie an allen Abenden in der Woche. Vor der SA stand heute zum erstenmal nicht Zillich, sondern sein Nachfolger Uhlenhaut. Vor der SS stand nicht Bunsen, sondern, da er auf Urlaub war, ein gewisser Hattendorf mit einem langen Pferdeschädel. Aber die Häftlinge, die in früherer Zeit auch die kleinste Veränderung verfolgt hatten, waren nach den Quälereien der letzten Woche in einem seltsamen Zustand dumpfer, hartnäckiger Gleichgültigkeit. Keiner von ihnen hätte entscheiden können, ob die drei übrigen Flüchtlinge, die man an die Bäume heranschleppte, tot oder immer noch lebend waren. Überhaupt hatte der ganze Tanzplatz vor der Baracke etwas von einer Zwischenlandungsstation; denn auf Erden konnte der Platz wohl nicht liegen und im Jenseits wohl auch nicht. Fahrenberg selbst, wie er da vor sie gestellt war, schien zusammengeschrumpft und abgemagert und genauso gequält wie sie alle.
In die stumpfen Köpfe der Häftlinge bohrt sich seine Stimme, einzelne Worte, etwas von der Gerechtigkeit und von dem Arm der Gerechtigkeit, von dem Volk und von dem Geschwür am Volk, von der Flucht und von dem
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