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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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Wiedererkennen, auf einen noch so blassen Abglanz von alldem, was sie früher gewesen war: ein Mädchen, funkelnd vor Freude, mit schmalen, glatten, von der Sonne gebräunten Gliedern, das Haar so schimmernd und stark wie die Mähne eines gesunden Tieres.
     
    Als die Frau merkte, daß er endlich anfing, sie zu erkennen, da kam eine Spur von Lächeln auf ihr Gesicht, und erst jetzt erkannte er sie wirklich an dieser Spur von Lächeln. Er erinnerte sich, wie sie das Essen verteilt hatte im Ferienlager, auf einem Brett über zwei Baumstümpfen. Wie sie vom Rudern gekommen war in einem blauen Kittelchen. Wie sie mit hochgezogenen Knien auf der Erde gesessen hatte. Wie sie die Fahne getragen hatte, müde und lächelnd, ein wenig Schnee auf dem dichten Haar. Ein Mädchen so schön und kühn, daß sie einem wie ein Wahrzeichen vorkam, wie die Galionsfigur auf dem Bug unseres eiligen Schiffes. Er erinnerte sich sogar, daß sie schnell geheiratet hatte, einen großen, hellen Menschen, einen Eisenbahner, der aus Norddeutschland heruntergekommen war, Herbert hatte er doch geheißen. Er hatte nie mehr an ihn gedacht, so wie man aufhört an etwas zu denken, wenn keine Spur mehr davon übrig ist. »Wo steckt denn der Herbert?« fragte er, und bereute sofort seine Frage. – »Wo soll er stecken?« sagte die Frau, »da!« Sie deutete mit dem Zeigefinger nach unten, auf die braune Wirtsgartenerde, unter die Erde, auf der die Nußblätter herumlagen und ein paar stachlige, schrumplige Nußschalen. So genau deutete sie, so ruhig, daß es Franz selbst vorkam, Herbert, den er völlig verloren und nicht einmal mehr gesucht hatte, müßte einfach unter ihm liegen, unter diesem Garten, in dem er sich zufällig niedergelassen hatte, unter den welken Blättern und den hohen SS- und SA-Stiefeln und den Stiefelchen ihrer Frauen, denn inzwischen war der Garten voll geworden. Lauter Uniformen und ihre Bräute, hübsche und junge, aber Franz waren sie allesamt eklig. »Setz dich doch, Lotte«, sagte er. Er bestellte Apfelwein für die Frau und Limonade für das Kind. »Dabei hab ich noch Glück gehabt«, erzählte Lotte mit veränderter, trockner Stimme. »Herbert war ja schon weg von uns nach Köln, wo er dann verpetzt wurde. Mich wollten sie auch holen. Da war gerade in unserer Abteilung etwas passiert, das Rohr war geplatzt, ich lag in irgendeinem Spital dicht am Abkratzen, jemand von meiner Verwandtschaft hatte das Kind, das ja noch ganz klein war, aufs Land mitgenommen. – Wie ich inzwischen wieder auf meinen Füßen stehen konnte, da hatte das Kind auch schon laufen gelernt und Herbert, na, Herbert, der war tot. – Nachher ist mir nichts mehr passiert, ich bin so durchgerutscht. - Du mußt nicht blasen, sondern lutschen am Röhrchen«, sagte sie zu dem Kind, und sie sagte entschuldigend zu Franz: »Es trinkt das Zeug zum erstenmal.«
     
    Sie rückte sein Häubchen zurecht und sagte: »Tot sein war manchmal nicht schlecht, aber das Kind! Kann ich denn denen mein Kind lassen! Du brauchst mich nicht zu ermahnen, Franz, und auch nicht zu trösten. Man kommt sich manchmal allein vor. Dann denkt man: Ihr andern habt alles vergessen.«
     
    »Wer ihr?« – »Ihr! Ihr! Du auch, Franz. Hast du vielleicht nicht Herbert vergessen? Meinst du vielleicht, ich hab das deinem Gesicht nicht angesehen? Wenn du sogar den Herbert vergessen hast, wie viele hast du dann noch vergessen? Und wenn du schon vergißt. – Damit rechnen die …« Mit der Schulter deutete sie nach dem Nachbartisch, der von SA besetzt war und ihrem Anhang. – »Sag nicht nein, du hast viele Sachen vergessen. Das ist schon schlimm, wenn man abstumpft, und man vergißt etwas von dem Schlechten, was sie uns angetan haben. Aber daß man das Beste vergißt, unter all dem Furchtbaren, das ist noch schlechter. Weißt du noch, wie wir alle zusammen waren? - Ich aber, ich hab nichts vergessen.«
     
    Franz streckte die Hand aus, ehe er’s recht gewollt hatte. Mit einer sachten Bewegung strich er diese unsinnige Locke weg, er strich ihr übers verschandelte Auge, über das ganze Gesicht, das unter seinen Fingern noch bleicher wurde und ein wenig kühler. Sie schlug die Augen nieder. Dadurch wurde ihr ganzes Gesicht dem ähnlicher, was es einmal gewesen war. Ja, Franz kam es vor, er brauchte nur noch ein paarmal darüberzustreichen, dann müßte die Wunde verheilen und der alte Glanz, die verlorene Schönheit in dieses Gesicht zurückgekehrt sein. Er zog aber seine Hand zurück, vorzeitig.

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