Das Siegel der Macht
Abzug. Grölende Stimmen dröhnten den Neuankömmlingen entgegen.
»Carolus ist noch nicht da. Ich kann seinen Rappen nirgends sehen. Warten wir lieber hier draußen auf ihn.«
Alexius glitt aus dem Sattel. Da er seine Besorgnis nicht zeigen wollte, kehrte er seinen Freunden den Rücken zu. Er strich dem Fuchshengst beruhigend über die Nüstern und band ihn im Schatten der Klostermauer an einen Ring. Dann ging er zum Ziehbrunnen neben der Schänke, um frisches Wasser nach oben zu ziehen. Sorgfältig tupfte Alexius seine Wunde ab. Das kühle Nass tat gut. Unvermutet machte sich ein Schwächegefühl in seinen Beinen bemerkbar, er musste sich auf einen Steinbrocken neben dem Ziehbrunnen setzen.
Alexius richtete seine Augen nach oben und sah die Stadttürme von Verona, die sich rötlich vom blauen Himmel abhoben. Sie kamen ihm nach der überstandenen Gefahr viel bedrohlicher vor als am Tag ihrer Ankunft. Entmutigt ließ der Höfling seinen Blick an der massiven Klostermauer vorbei zu den Holzhütten neben der Schänke schweifen.
Sigibert und Hodo hatten ihre Pferde neben dem Karren des Wirts angebunden und traten zum Brunnen. Erleichtert stellte Alexius fest, dass der kräftig gebaute rothaarige Hodo keinen Kratzer abbekommen hatte. Sein grüner Mantel mit den kostbaren silbrigen Bordüren war zerrissen und wehte im Nachmittagswind. Hodo bespritzte sich das gerötete sommersprossige Gesicht mit Wasser, griff an seinen Hals. Der Torquis, sein liebster sächsischer Halsschmuck, war intakt.
»Schaut meine Beinkleider an«, schimpfte der zierliche Sigibert und fixierte seine zerfetzten gelben Hosen und die schmutzigen Stiefel. »Eigentlich schade, dass König Otto ausgerechnet in diesem Frühling in Regensburg beschlossen hat, uns neu auszustaffieren.« Er wippte mit dem Kopf, machte die anderen auf seine golddurchwirkte Mütze aufmerksam, unter der die brünetten Locken hervorquollen. Sie kontrastierte gut zum blauen Mantel mit den roten Borten. Lachend klopfte Sigibert auf sein Schwert. Der verzierte Griff aus Gold wog mindestens drei Pfund. »Wenigstens haben die neuen Waffen heute gute Dienste geleistet.«
»Wir können froh sein, dass der Herrscher nicht mit uns ausgeritten ist«, warf Hodo ein. »Weshalb ist er eigentlich im Kloster geblieben?« Die Frage war an den achtzehnjährigen Alexius gerichtet.
»Während der Fastenzeit dehnt er die Gebetsstunden in die Länge und will nichts von Ausritten wissen. Wer sich in diesen Tagen wohl mehr dem Herrn zuwendet, der König oder sein frommer Vetter Brun?« Alexius lächelte seinen Freunden warmherzig zu. Er fühlte sich wohl in der Gesellschaft der Sachsen. Als Sohn eines byzantinischen Vaters und einer Grafentochter aus Reims war er überall zu Hause. Die zwei Jahre am deutschen Königshof hatten zu einer tiefen Freundschaft mit dem fünfzehnjährigen König Otto III. und dessen jüngsten Gefolgsleuten geführt. Alexius betrachtete es als Auszeichnung, dass er nun im Frühling des Jahres 996 mit dem Königshof nach Italien reisen durfte.
»Was sollte eigentlich der Aufruhr?« Sigibert warf seinen Freunden fragende Blicke zu.
»Das ist doch offensichtlich«, antwortete der bärtige Hodo. »Die Kleinbürger, Bauern und Berittenen waren sich vorhin alle einig. Sie haben uns angegriffen, weil sie den fahrenden Hof hassen.«
»Aber weshalb?«
»Weil der Bischof von Verona und seine Leute ganz vom deutschen Königtum abhängen. König Ottos Vetter, der Herzog von Kärnten und Markgraf von Verona, ist weltlicher Gerichtsherr der Stadt. Ein den Stadtbewohnern völlig Fremder, ein Teutone, darf Anno Domini 996 hier Recht sprechen. Außerdem sind die Veroneser wütend, dass sich Hof und Heer aus ihren Getreidespeichern verköstigen.«
Alexius hörte nur mit halbem Ohr zu, ging vor dem Ziehbrunnen unruhig auf und ab. Weil die ungewöhnliche Frühlingshitze drückte, streifte er seinen violetten Mantel ab. Schließlich gab er seiner Ungeduld nach und fragte: »Wo Carolus nur so lange bleibt?«
»Gehen wir ihn suchen«, schlug Hodo vor, besann sich aber anders und blickte zum Himmel. »Nein, wir wollen noch etwas warten. Wenn der Schatten des Klostermauerturms den Brunnen erreicht, wollen wir uns einzeln auf den Weg machen.«
Nach kurzer Zeit fröstelte Alexius plötzlich. Er schüttelte den staubigen Mantel aus und befestigte ihn erneut mit der byzantinischen Agraffe, einem Erbstück von seinem Großvater. Um die Zeit zu vertreiben, nahm der junge Grieche das Gespräch
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