Das Sigma-Protokoll
1. KAPITEL
Zürich
»Darf ich Ihnen inzwischen etwas zu trinken bringen?«
Der Hotelpage war ein gedrungener junger Mann, auf dessen grüner Lodenuniform das Namensschild aus Messing glänzte.
»Nein, danke,« sagte Ben Hartman mit einem schwachen Lächeln.
»Vielleicht einen Tee? Oder einen Kaffee oder ein Glas Mineralwasser?« Der Page schaute zu ihm hoch. Er strahlte ihn mit den erwartungsvollen Augen eines Menschen an, dem nur noch wenige Minuten blieben, das Trinkgeld in die Höhe zu treiben. »Tut mir furchtbar Leid, dass der Wagen noch nicht da ist.«
»Kein Problem.«
Ben stand in der Lobby des Hotels St. Gotthard, eines eleganten Etablissements aus dem 19. Jahrhundert, dessen Spezialität die Betreuung des gut betuchten, internationalen Geschäftsmannes war. Und das, dachte Ben boshaft, bin ich ja wohl. Nachdem er ohnehin schon ausgecheckt hatte, spielte er flüchtig mit dem Gedanken, dem Pagen ein Trinkgeld dafür zu geben, dass er ihm nicht die Taschen hinterhertrug, dass er ihm nicht wie eine Klette am Bein hing, dass er sich nicht unaufhörlich dafür entschuldigte, dass der Wagen, der ihn zum Flugplatz bringen sollte, noch nicht da war. Überall auf der Welt bildeten sich Luxushotels auf dieses Herumscharwenzeln etwas ein. Ben war ziemlich oft auf Reisen und hatte das schon immer als höchst aufdringliches Ärgernis empfunden. Wie viel Zeit hatte er schon darauf verwendet, sich aus diesem Kokon zu befreien. Doch die Fesseln aus uralten, ritualisierten Privilegien waren dann doch stärker gewesen. Der Hotelpage hatte ihn durchschaut, na schön. Für ihn war er nur einer von vielen reichen, verwöhnten Amerikanern.
Ben Hartman war sechsunddreißig, fühlte sich aber heute wesentlich älter. Und das lag nicht nur am Jetlag - er war gestern aus New York gekommen und stand immer noch etwas neben sich. Es hing damit zusammen, wieder in der Schweiz zu sein. In glücklicheren Tagen hatte er viel Zeit hier verbracht: immer auf der Überholspur, ob auf Skiern oder im Wagen. Unter den gesetzestreuen Bürgern mit ihren versteinerten Gesichtern hatte er sich gefühlt wie ein wilder Freigeist. Er wünschte, dieses Feuer wieder entfachen zu können. Doch er konnte nicht. In der Schweiz war er nicht mehr gewesen, seit hier sein eineiiger Zwillingsbruder Peter - der engste Freund, den er je gehabt hatte - vor vier Jahren umgekommen war. Ben erkannte jetzt, dass es ein Fehler gewesen war, zurückzukommen. Er hatte zwar damit gerechnet, dass die Reise Erinnerungen aufwühlen würde, allerdings nicht solche. Seit er auf dem Flugplatz Kloten gelandet war, war er völlig durcheinander, wurde er hin- und hergerissen zwischen Zorn, Kummer und Einsamkeit.
Aber er hütete sich davor, seine Gefühle offen zu zeigen. Gestern Nachmittag hatte er ein paar kleinere geschäftliche Dinge erledigt, und heute Morgen hatte er sich zu einem zwanglosen Gespräch mit Rolf Grendelmeier von der Union Bank of Switzerland getroffen. Zwar ohne besonderen Grund, aber man musste seine Kunden bei Laune halten; Höflichkeitsbesuche gehörten zum Geschäft. Um ehrlich zu sein, sie waren das Geschäft. Manchmal verspürte er einen leichten Stich, wenn er daran dachte, wie leicht er in die Rolle des einzigen überlebenden Sohnes des legendären Max Hartman geschlüpft war. Er war der mutmaßliche Erbe des Familienvermögens und des Chefsessels von Hartman Capital Management, des von seinem Vater gegründeten milliardenschweren Unternehmens.
Inzwischen beherrschte Ben alle Tricks des internationalen Finanzgeschäfts. In seinen Schränken hingen Anzüge von Brioni und Kiton, er verfügte über das unbeschwerte Lächeln, den festen Händedruck und - das vor allem - den nüchternen, ruhigen und interessierten Blick, der zwar Vertrauenswürdigkeit, Zuverlässigkeit und Scharfsinn signalisierte, aber häufig nur schreckliche Langeweile verbarg.
Aber er war nicht in erster Linie aus beruflichen Gründen in
die Schweiz gekommen. Von Kloten würde ihn ein kleines Flugzeug zum Skifahren nach St. Moritz bringen, und zwar zu einem alten und äußerst wohlhabenden Kunden, zu dessen Frau und dessen angeblich wunderschöner Enkelin. Der Mann setzte ihm hartnäckig, wenn auch auf humorvolle Weise zu. Ben war sich darüber im Klaren, dass er verkuppelt werden sollte. Das war eines der Risiken für einen vorzeigbaren, gut situierten und kreditwürdigen Single aus Manhattan: Seine Kunden versuchten permanent, ihn mit ihren Töchtern, Nichten und Kusinen zu
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