Das singende Kind
Das singende Kind
Gegen zehn Uhr abends fing Georg an, die ersten Seiten zum Singenden Kind zu schreiben. Auf dem schwarzen Eichentisch, an dem er saß, lagen die Zeichnungen, die Jos am Nachmittag gebracht hatte. Alle zeigten das Singende Kind, das auf einem Schemel stand. Keine gefiel Georg. Jos hatte nichts verstanden von der Idee. Das Kind sah zu heiter aus. Als ob es ein leichtes Liedchen singen sollte. Die Katze lief im Schnee. Das Lied vom Lämmchen. Jos ging viel zu naiv an dieses zweite Kinderbuch, das sie zusammen machten. Er mochte noch nicht einsehen, daß Georg eine Apokalypse für die Kleinen plante.
Trudi stand zwischen den Türen ihres Kleiderschrankes, als Georgs Schreibmaschine einsetzte, und aß eine Käseecke. Sie hätte gerne mit Georg geschlafen, doch sie hatte vor, keine Silbe zu sagen, solange er schrieb. Trudi nahm noch einen Käse aus der Schachtel und schob sie dann tief in den Schrank zurück. Der Schmierkäse schmeckte nach Schinken, der rauchige Geruch drang sogar durch die Pappe der Schachtel, und Georg ließ nicht mal eine Ahnung von Fleisch im Haus zu.
»Geh doch ins Bett«, sagte Georg.
Er sprach in das Klappern der Tasten, doch seine Stimme kam über den dunklen Flur zu Trudi, die noch vor ihrem Schrank stand und mit dem Zeigefinger über den Zeitungsausriß strich, den sie an eine der Türen geklebt hatte. Ein Mann mit dunklen langen Haaren. Die Augen aufgerissen und die Brauen hochgezogen. Den Mund zu einem hohen Ton gerundet. Trudi hörte Georg und entschied, still zubleiben. Sie zog die Bluse halb aufgeknöpft über den Kopf, öffnete den Reißverschluß ihrer Hose und ließ alles fallen. Sie griff nach einem Bügel, doch sie hängte ihn wieder an die Stange, drückte Bluse und Hose zu einem Knäuel und schmiß es auf den Boden des Schrankes. Trudi ging ins Bett, ohne noch ins Bad zu gehen. Sie dachte, daß sie eine Schlampe sei, und genoß den Gedanken.
Georg fand Trudi in einem schlechten Traum, als er Stunden später zu ihr kam. Sie lag auf den Knien, den Kopf ins Kissen gegraben, das ihre angstvollen Laute dämpfte. Georg faßte Trudi im Nacken und schüttelte sie. Er hatte es Jos mit einem jungen Hund tun sehen, der im Schlaf jaulte. Es tröstete auch Trudi immer. Georg hatte das oft genug getan, Trudi aus ihren Träumen geschüttelt, und dann hatte sie sich gestreckt und gleichmäßiger geatmet. Doch diesmal schreckte sie hoch, drehte sich und schlug nach ihm und hätte beinahe die Brille aus seinem Gesicht geschlagen. Georg nahm die kleine runde Brille, deren Gestell Schildpatt vortäuschte, klappte sie sorgsam zusammen und legte sie auf den Nachttisch.
»Du schläfst gar nicht mehr«, sagte er.
Doch Trudi hatte sich schon bäuchlings gelegt und die Beine ausgestreckt und atmete im Gleichmaß der Schlafenden.
Georg ging ins Bad, zog die Tür leise zu und wusch sich im Dunkeln, aus Furcht, der Schein der Lampe könne Trudi aus dem nun friedlichen Schlaf holen. Ihr Körper würde sich an seinen drängen, von ihm verlangen, was er in dieser Nacht weniger als sonst geben wollte. Er unterließ das Gurgeln, das zu seinen Gewohnheiten gehörte, spülte den Mund nur lange mit lauwarmem Wasser, und als er es ausspuckte, dachte Georg, daß er Jos die Fotos zeigen sollte, seine ganze Sammlung, damit Jos eine andere Vorstellung vom Singenden Kind bekam.
Der Zug bremste, und das nahe Licht des Bahnhofs erhellte den Tunnel und ließ schmutzige Kacheln an den Mauern erkennen. Trudi stand auf, als der Mann sich zur Tür drehte. Sie nahm die Tüte vom Sitz neben ihrem, sah hinein, um nicht einen Augenblick länger ihn anzusehen, und las die Titel der Bücher, die sie schon vor Tagen hätte zurückgeben müssen. Sie hielten in einem der unordentlichen U-Bahnhöfe, die Trudi nur vom Durchfahren kannte. Der Mann schob die Tür auf und stieg aus. Er hatte es eilig, und Trudi tat sich schwer, Schritt zu halten. Doch sie kam auf der Rolltreppe hinter ihn zu stehen, konnte die knöchelhohen Schuhe betrachten, die zerschlissenen Jeans, das Jackett, das zu einem guten Anzug zu gehören schien, die glatten hellbraunen Haare, die auf dem Kragen lagen, den flachen Karton in seiner linken Hand. Fotopapier. Trudi hatte solche Kartons bei Georg gesehen.
Der Gedanke an Georg hängte sich so fest bei ihr ein, daß sie den Mann fast aus den Augen verlor, als sie oben ankamen. Er ging ihr davon, auf die Hochhäuser zu, die sich hundert Meter vom Ausgang der Untergrundbahn auftürmten. Sie hatte
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