Das Spiel
sie, was geschehen war.
»Komm schon, Julia!«, rief Debbie. »Über die Treppe geht es schneller als mit dem Aufzug.«
Schwerfällig rannte das Mädchen vor ihr die Stufen hinunter, ihre Hand klammerte sich ans Treppengeländer, während sie unaufhörlich vor sich hinplapperte. Es hörte sich ziemlich irrsinnig an. »Was meinst du, war das einer der Jungs? Vielleicht haben sie jemanden gequält. Als Mutprobe vielleicht. Jungs machen so was, oder? Und dieser Schrei war echt grus–«
Plötzlich stoppte sie abrupt. Sie waren im ersten Stockwerk angekommen. Hinter der großen Glastür, die den Flur vom Treppenhaus trennte, wäre Debbie beinahe mit Alex zusammengestoßen. Er trug bunt karierte Boxershirts und ein weißes Shirt von Ed Hardy, auf dem ein schwarzer Drache Feuer spie. Ein grinsender Totenkopf stand in Flammen und … Julia schloss die Augen … aus dem knöchernen Kiefer tropfte ein kaltes abscheuliches Vampirrot. Eine silberne Kette mit einem Kreuz um den Hals vervollständigte das Outfit des älteren Studenten.
»Debbie, hier gibt es nichts zu gaffen. Geh wieder zurück nach oben. Aber du, Julia … könntest du bitte …« Alex brach ab, doch Julia erkannte an dem Blick, den er ihr zuwarf, dass ihre Vorahnung furchtbare Gewissheit geworden war.
»Wo«, fragte sie nur.
»Erstes Apartment am Anfang des Flurs, wie bei euch oben«, erwiderte Alex knapp.
Julia schob sich an Debbie vorbei und rannte los, vorbei an einer Reihe von Jungs, die ihr nachstarrten. Einige riefen ihr etwas nach und irgendwo hörte sie auch einen anzüglichen Pfiff. Aber sie war immun dagegen. Alle Bemerkungen prallten an ihr ab. Sie holte erst wieder Atem, als sie vor dem Apartment stand, das die Nummer 113 trug.
»He, ihr bekommt Damenbesuch«, sagte einer der Jungen, der im Flur stand. Er trug einen makellos weißen Pyjama, als handele es sich um das Outfit für die Hochzeitsnacht.
Ein anderer flüsterte. »Mann, ist das geil, oder? Das ist die Schwester von unserem Alien. Ach, ich liebe es, an Originalschauplätzen zu drehen.«
Alles, was Julia von diesem Typen sehen konnte, war der nackte, unbehaarte Oberkörper und die rosa Schlafanzughose, die er trug. Ansonsten war sein Gesicht hinter einer Kamera verschwunden.
Und – verdammt – er filmte weiter, auch als erneut das Licht ausfiel.
*
Julia war froh, dass der Strom diesmal nicht wieder zurückkam. So blieb ihr Zeit, tief Luft zu holen und sich zu konzentrieren. Offenbar schien ein Stromausfall hier im College nicht ungewöhnlich zu sein, denn es dauerte nur wenige Augenblicke und die Studenten hatten für eine Notbeleuchtung gesorgt. Kerzen brannten und einige fuchtelten so wild mit ihren Taschenlampen herum, dass sie das Gefühl hatte zu schwanken. Ihr wurde übel.
»Du bist Julia?« Ein hochgewachsener, schlanker Junge stand in der Tür zu dem Zimmer, das direkt unter ihrem liegen musste. Die hellbraunen kurzen Haare ließen ihn im Halbdunkel seltsam ernst aussehen. Er war der Einzige, der vollständig angezogen war. Schwarze Hose, schwarze Turnschuhe und schwarzer Pulli. Sogar einen Gürtel trug er.
»Ich bin David. Irgendwas stimmt mit deinem Bruder nicht. Ich habe versucht, ihn zu wecken, aber je mehr ich auf ihn einrede, desto panischer wird er. Er wacht nicht auf, aber er lässt sich auch nicht anfassen.«
»Ja.« Es war die einzige Antwort, die sie geben konnte.
»Ist das normal?«, hörte sie hinter sich jemanden fragen, doch sie wandte sich nicht um.
Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie musste Robert beruhigen – und damit zum Schweigen bringen. Hatte er irgendetwas im Schlaf gesagt? Was niemand wissen sollte, durfte?
Sie riss sich zusammen und schob sich an David vorbei. »Schon gut, ich kümmere mich um ihn. Und …« Sie deutete nach hinten. »Ich brauche keine Zuschauer.«
»Hat er öfter solche Albträume?« David ignorierte ihre Bitte.
Für einen Moment vergaß Julia ihre Everybody’s-Darling-Maske. »Es ist einfach nur ein Albtraum, na und?«, fauchte sie. »Kannst du jetzt endlich dafür sorgen, dass die alle hier verschwinden?«
»Hey, ich will ja nur helfen!« David hob die Hände.
»Du musst ihm nicht helfen! Wenn er aufwacht, wird er darüber lachen.« Sie versuchte, ihre Stimme harmlos klingen zu lassen, und betrat Roberts Zimmer, während ihr durch den Kopf schoss: wird er nicht.
Das Zimmer ihres Bruders war völlig identisch mit ihrem ein Stockwerk höher. Wie sie hatte auch Robert seine Koffer nicht ausgepackt.
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