Das Spiel
schwarzen Seelen zu missionieren.
Sie war heilfroh, als Alex jetzt am Ende des Bettes auftauchte. Obwohl er nur vier Jahre älter war, sah er so aus, als besäße er als Einziger die nötige Autorität, um diesem Irrsinn ein Ende zu bereiten. Und tatsächlich! Er zeigte auf die Uhr und erklärte energisch: »Ich glaube, wir können jetzt alle wieder ins Bett. Wie ihr seht, geht es Robert gut.«
David und Benjamin tauschten einen Blick, doch dann verließen sie ohne einen weiteren Kommentar das Zimmer. Alex folgte ihnen, nicht ohne Julia und Robert ein aufmunterndes »Gute Nacht, ihr beiden!« zuzuwerfen. »Am besten schlaft ihr euch morgen erst einmal gründlich aus!«
Als die Tür hinter ihm zuklappte, ging Julia um das Bett herum, stellte sich an das Fenster und starrte hinaus auf den See, diesen Fleck in der Nacht.
»Wir können hier nicht bleiben, Julia«, hörte sie Robert hinter sich flüstern. »Dieser Ort ist böse, verstehst du, böse!«
Kapitel 5
Julia wollte nicht hören, was Robert zu sagen hatte. Nichts von seinen Vorahnungen und düsteren Prophezeiungen. Andererseits wusste sie, er behielt meistens recht, hatte diese besondere Gabe, Dinge zu fühlen, von denen sie nichts ahnte.
Sie handelte aus einem Impuls heraus, als sie sich – ohne einen Ton zu sagen – einfach umwandte und Roberts Zimmer verließ. Sie nahm nicht einmal richtig wahr, dass ein Junge im Vorraum neben der Tür lehnte, der eben noch nicht da gewesen war. Wie durch Watte hörte sie, was er sagte: »Dein Bruder ist klug, wenn er schon nach drei Stunden das weiß, wozu andere hier oben Jahre brauchen.«
Julia drängte sich an ihm vorbei, ohne etwas zu erwidern, doch während sie mühsam beherrscht in Richtung Treppenhaus ging, spürte sie, wie nicht nur sein Blick sie verfolgte. Studenten standen in kleinen Grüppchen zusammen, kicherten spöttisch, murmelten. Das ist Julia Frost. Sie ist neu hier. Es war ihr Bruder, der da eben geschrien hat, als wolle ihn jemand killen.
Und da rannte Julia einfach los. Ergriff die Flucht. Und das Komische war: Es fühlte sich genau richtig an. Sie konnte nicht anders, als vor Robert zu fliehen oder besser vor der Tatsache, dass alle hier ihren Bruder in Zukunft als Freak betrachten würden.
Was sie jetzt brauchte, war frische Luft und Zeit zum Nachdenken. Und das konnte sie nicht in diesen endlosen, stickigen Korridoren, deren Wände immer näher rückten, während gleichzeitig die holzvertäfelte Decke auf sie zukam. Sie passierte eine Glastür und noch eine. Dann führten sowohl rechts als auch links Treppen nach unten ins Erdgeschoss.
Spontan entschied sie sich für rechts, nur um im Erdgeschoss erneut auf einen langen, fensterlosen Flur zu stoßen.
Gott, gab es denn hier nirgendwo einen Weg ins Freie? Offenbar nicht. Stattdessen wieder eine Glastür nach der anderen und immer wieder zweigten weitere Gänge oder Treppen ab. Wo war nur der Seitenausgang, durch den sie am Abend gekommen waren?
Plötzlich flackerte wieder das Licht, erlosch und ließ sie in einer beängstigenden Dunkelheit zurück. Sie blieb stehen. Ihr Atem raste. Sie wollte nichts lieber als schreien, und sie wusste, der Schrei würde sich anhören wie Roberts verzweifelte Angst, mit der er alle aus dem Schlaf geschreckt hatte.
Erneut flackerten die Deckenlampen. Es wurde kurz heller, dann wieder dunkler und schließlich wurde der Flur in ein gespenstisch grünliches Licht getaucht. Die Notbeleuchtung war angesprungen. Im Abstand von wenigen Metern zeigten gedimmte Leuchten den Fluchtweg.
Sie hatte keine Ahnung, in welchem Teil des Gebäudes sie sich befand. Noch immer im Nordflügel? Warum hörte sie dann nirgends Geräusche? Keine Schritte, keine Stimmen. Nichts.
Verwirrt sah sie sich um. Der Teil des Gebäudes war offenbar erst vor Kurzem renoviert worden. Es roch nach frischer Farbe, die dunkle Holzvertäfelung der Wände und Decke war verschwunden, dafür beherrschte kaltes Grau die Atmosphäre. Dieselbe Farbe, in der auch die Türen gestrichen waren. Es dauerte eine Weile, bis Julia im düsteren Licht die Schilder entziffern konnte.
Lecture Hall
Laboratory
Learning Center
Seminar Room 1-5
Julia wusste, dass das Grace zu einem der am besten ausgestatteten Colleges auf dem ganzen Kontinent gehörte. Computerräume, Bibliotheken, Speisesäle, moderne Vorlesungssäle, Kino, ein kleines Theater, ein Supermarkt, Schwimmhalle, mehrere Sportplätze, zwei riesige Sporthallen und vieles mehr standen den Studenten auf
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