Das Spiel
Ein leerer Bilderrahmen stand auf seinem Nachttisch. Julia fühlte einen Stich in ihrem Herzen.
Dann wagte sie endlich einen Blick auf ihren Bruder. Sein dünner Körper sah in dem karierten Schlafanzug aus, als befände er sich im Hungerstreik. Er lag auf dem Rücken und starrte regungslos an die hässliche Holzdecke. Nein, er starrte natürlich nicht, denn er hatte ja die Augen geschlossen, aber was, wenn die Augen hinter den Lidern geöffnet waren?
Es überlief sie eiskalt bei dieser Vorstellung. Etwas Schweres löste sich und fiel auf ihre Brust, wo es für immer liegen bleiben würde. Sie atmete tief durch. Man hatte versucht, ihr Entspannungsübungen beizubringen, mit der sie die Panik vertreiben konnte. Atemübungen. Konzentrationsspiele.
Lächerlich. Einfach lächerlich. Wie sollte man mit Atemübungen das vertreiben, was Debbie Nachtwesen nannte?
»Robert!«, flüsterte sie. »Wach auf! Ich bin’s!« Sie streckte die Finger aus, berührte im Dunkeln die Hand ihres Bruders, und in dem Moment, als Robert die Augen aufschlug, sprang mit einem Surren das Licht wieder an.
*
Robert blinzelte.
Schweißperlen rannen seine hohe Stirn herunter, die Mum immer Denkerstirn genannt hatte.
Seine dunkelbraunen Haare klebten am Kopf und sein Mund war verzerrt, als er anfing zu sprechen.
»Was ist passiert?«
»Nichts«, beruhigte sie ihn, doch dann hörte sie eine Stimme hinter sich.
»Was heißt denn hier nichts?«
Julia unterdrückte ein Aufstöhnen. Hatte sie diesen David nicht gebeten, sie allein zu lassen?
Robert griff nach der Brille auf dem Nachttisch, als könnte er sich nur erinnern, wenn er sie aufsetzte. »Alles war durcheinander«, murmelte er. »Nichts mehr an seinem Ort. Die Bücher waren aus den Regalen gerissen … und hinter dem Tisch …«
Julia war fast so weit, ihre Hand auf seinen Mund zu pressen, nur damit er schwieg. Doch sie schaffte es, sich zusammenzureißen und munter zu sagen: »Alles okay, du hast nur geträumt. Das muss die neue Umgebung sein. Oder hast du wieder in einem deiner komischen Bücher gelesen, Rob?«
Immer schön lächeln, Julia.
Mein Gott, dieses verdammte Grinsen tat so weh.
Und warum Rob?
Sie hatte ihn noch nie Rob genannt.
Aber immerhin kapierte er und bemühte sich, nicht allzu aufgeregt zu wirken. Verlegen zog er die Bettdecke hoch und wandte sich an David. »Tut mir leid, wenn ich euch geweckt habe.«
David trat neben Julia und klopfte dem Jüngeren aufmunternd auf die Schulter. »Das muss ja der totale Horrortraum gewesen sein, so wie du geschrien hast.«
»Ich habe geschrien?« Roberts Augen weiteten sich.
»Klar, wie am Spieß!«, sagte Julia schnell. »Die sollten dich hier in einem schalldichten Raum unterbringen, sonst wirst du noch wegen nächtlicher Ruhestörung festgenommen.«
Egal, welchen Unsinn sie hier von sich gab, wichtig war nur, dass er wieder zu sich kam.
Ein leises Surren ertönte in ihrem Rücken. Im ersten Moment dachte sie, es käme von der Deckenlampe, deren Glühbirne immer wieder flackerte, doch dann erkannte sie das Objektiv einer Videokamera. Der Junge in dieser grässlich geschmacklosen rosafarbenen Schlafanzughose hielt die Kamera direkt auf Roberts Gesicht gerichtet und rief: »Super, super, super! Schau mich jetzt direkt an! Ja, genau so! Mann, sind deine Pupillen gigantisch! Als hätte jemand Löcher in deine Augen gebrannt. Oder hast du was eingeworfen?« Jetzt trat er noch dichter an Robert heran und beugte sich zu ihm hinab. »Könntest du noch einmal so tun, als ob du schläfst? Ich habe den Schrei nicht richtig drauf, verstehst du?«
In Julia explodierte etwas – ein riesiger Feuerball in ihrem Kopf, der jegliche Vernunft niederbrannte.
Ihre Hand traf die Wange des Videotypen. »He, bist du ein Spanner, oder was? Einer dieser Typen, die anderen hinterhersteigen, sich an ihrem Elend aufgeilt und alles auf Youtube veröffentlichen? Mach die Kamera sofort aus oder du kannst sie dir in Zukunft in den Arsch stecken!«
Wahnsinn! Es tat so gut zu brüllen.
»Benjamin, sie hat recht, mach die Kamera aus!«, hörte sie gleich darauf David sagen und dann legte er Julia beruhigend die Hand auf die Schulter. »Benjamin meint es nicht böse.«
War dieser David etwa der Collegeseelsorger? Nicht ausgeschlossen, so wie er sich kleidete. Ganz tief innen konnte Julia mit solchen Gutmenschen nichts anfangen. Das waren nichts anderes als Außerirdische, die auf die Erde geschickt wurden, um die erbärmlichen Erdlinge und ihre
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