Macabros 039: Im Verlies der Hexendrachen
Als der Fremde zum drittenmal in dieser Woche in das kleine
Gasthaus kam, freute sich der Wirt. Nun war der Mann ihm nicht mehr
unbekannt. Das Gesicht mit den hellen, fast durchsichtigen Augen und
der geraden, aristokratischen Nase war ihm schon vertraut. Der
Besucher, der in das abgelegene und um diese frühe Stunde von
keinem Menschen sonst besuchte Gasthaus kam, nahm den Platz an der
Außenwand wieder ein, wo zwei kleine Fenster den Blick zur
Steilküste ermöglichten.
»Guten Morgen, Monsieur«, sagte der untersetzte Wirt
fröhlich. »Das gleiche?« Von den beiden
vorhergegangenen Tagen wußte er, daß der Fremde ein Petit
Dejeuner wünschte. Der Mann nickte, klopfte sich eine Zigarette
aus einer frischen Packung und blickte versonnen durch das Fenster
hinüber zur Küste, wo eine düstere Ruine in den
morgendlich blauen Himmel ragte.
Die Silhouette des ehemaligen Schlosses machte einen unheimlichen
und bedrohlichen Eindruck.
Der Wirt kam und brachte den Kaffee. Er war dünn wie
Spülbrühe. Doch Harry Frandon hatte sich schon daran
gewöhnt. Der siebenundzwanzigjährige Engländer nutzte
das Frühstück als Vorwand, um hierherzukommen. Sein
Interesse galt dem verwitterten Schloß auf dem weit
vorgeschobenen Kap. Die Ruine mit den Zinnen und Türmen lag von
dieser Wirtschaft, die hier in der Nähe der spanischen Grenze
ihren südländischen Stil nicht verleugnen konnte, etwa zwei
Kilometer Luftlinie entfernt.
Von der Erhöhung aus hatte man einen ausgezeichneten Blick
auf das Kap.
»Was ist das für ein Schloß, Monsieur?«
fragte Frandon unvermittelt, als der Wirt zu ihm an den Tisch
kam.
»Das Schloß eines Comte«, antwortete der Gefragte
einsilbig, als wäre es ihm nicht recht, daß er darauf
angesprochen wurde.
Gerade das offen zur Schau gestellte Desinteresse stachelte
Frandon an, am Ball zu bleiben.
»Kennen Sie den Namen?«
»Hm, nein… nicht direkt. Ich habe mich nie dafür
interessiert.«
Die Art und Weise, wie der Franzose das sagte, zeigte Frandon,
daß der Mann log. Er war ein schlechter Lügner.
»Man nannte ihn den Comte de Noir… den Comte der Nacht.
Warum?«
Der Wirt schluckte. »Sie… kennen den Namen?« fragte
er verwundert. »Warum fragen Sie mich dann danach?«
»Ich hoffe, mehr über ihn zu erfahren. Man hat mir
gesagt, daß Sie hier geboren wurden, daß Sie schon immer
hier leben. Die Leute im Dorf unten zeigten sich ebenfalls sehr
verstockt, als ich mich nach der Schloßruine erkundigte. Man
meinte aber, daß Sie Fremden gegenüber aufgeschlossener
seien.«
»So, sagt man das.«
Frandon nickte.
»Hat mau Ihnen auch gesagt, weshalb?« Als der Wirt mit
belegter Stimme fortfuhr, verfinsterte sich seine Miene, und er
starrte mit ernstem Blick aus einem der Fenster hinüber zu der
verrufenen Schloßruine des Comte de Noir. »Ich war der
einzige, der es damals gewagt hat, die Ruine zu durchsuchen,
Monsieur«, sagte er kaum hörbar. »Alle warnten mich
davor. Ich muß vorausschicken, daß ich einen Sohn hatte.
Er war zwölf. Eines Tages durchstöberte er die Gegend, um
sie zu erforschen. Nun, Sie können sich denken, wie Jungen in
diesem Alter sind. Obwohl er seit seiner frühsten Kindheit davor
gewarnt worden war, jemals die Ruine zu betreten, habe ich Grund zu
der Annahme, daß er es dennoch getan hat. Wer weiß schon
genau, was in den Köpfen der eigenen Kinder vorgeht… Das
Verbotene lockt immer! Der langen Rede kurzer Sinn, Monsieur: Pierre,
mein Sohn, verschwand spurlos. Man hat den ganzen Berg nach ihm
abgesucht, hat vermutet, daß er möglicherweise in eine der
zahlreichen Felsspalten gerutscht und zu Tode gekommen ist. Nicht
weit von der Schloßruine entfernt an der Steilküste hat
man auf den Klippen im Wasser Blutspuren gefunden. Eine
Vergleichsanalyse mit der Blutgruppe meines Sohnes, von der
zufällig Unterlagen beim Arzt vorhanden waren, ergab, daß
es sich um die gleiche Gruppe handelte. Danach scheint den
Rekonstruktionen der Polizei zufolge mein Sohn auf den Klippen
herumgeklettert und abgestürzt zu sein. Seine Leiche konnte
allerdings nie geborgen werden. Es gibt in der Nähe des Kaps
zahlreiche gefährliche Strudel. Man nimmt an, daß mein
Sohn von ihnen in die Tiefe gerissen und nicht mehr freigegeben
wurde.«
»Aber sie glauben nicht an das, was die Polizei
annimmt?«
»Nein. Deshalb bin ich auf dem Schloß gewesen. Ich habe
mein Leben riskiert. Sie mögen denken, daß ich
übertreibe. Abseits der großen Städte sind die
Menschen noch recht
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