Das Spiel
dem Campus zur Verfügung. Aber Julia hatte sich keine Vorstellung gemacht, wie groß allein das Hauptgebäude war, wie verwinkelt. Wie schnell man sich verirren konnte! Vermutlich konnte man hier tagelang durch Flure irren, Treppen bis ins Unendliche hinaufsteigen, Fahrstühle bis in das Innere der Erde nehmen und dennoch würde man nie ankommen.
Verflucht! Irgendwo musste es doch eine Fuck-Tür geben, über die man nach draußen gelangte.
Dieser Ort ist böse.
Verdammt, Robert, kannst du nicht einmal glauben, dass alles gut wird?
Oh Gott, ich krieg keine Luft! Ich muss hier raus!
In dem Moment, als die Panik sie zu überwältigen drohte, wurde es heller. Der Korridor machte eine scharfe Biegung, und plötzlich stand Julia in einer riesigen Halle, die eher an das luxuriös gestaltete Foyer eines Fünfsternehotels erinnerte als an eine Universität.
Ein riesiger Kronleuchter schwebte von der Decke. Der helle Schein der unzähligen Lampen vermischte sich mit dem dunkleren der Außenbeleuchtung, die durch die Glasfront ins Innere drang, zu einem orangefarbenen Licht. Die Decke, gestützt von Säulen aus grauen, unbearbeiteten Steinquadern, musste über sechs Meter hoch sein. Zwei breite dunkle Holztreppen führten rechts und links ins obere Stockwerk, wo sie in einer Holzgalerie endeten. Von dort aus konnte man hinunter in das Vestibül schauen, wo überall gemütliche Sitzecken standen. In dem gigantischen offenen Kamin an der gegenüberliegenden Wand glühten noch einige Holzscheite. Das hier hatte nichts, aber auch gar nichts mit der spartanischen und veralteten Ausstattung der Studentenzimmer gemeinsam und auch nichts mit der grünlich schimmernden Kälte des Korridors, den sie eben noch entlanggelaufen war.
Es war eine völlig unwirkliche Situation und nach einem Moment wusste Julia auch, woran das lag. Diese Eingangshalle mit dem hellen Licht war für viele Menschen gemacht, für Trubel, für Lärm, für Leben. Doch stattdessen war alles um sie herum totenstill und leer.
Julias Blick fiel auf eine Reihe von bläulich flackernden Flachbildschirmen neben der Eingangstür, aber sie hielt sich nicht damit auf, herauszufinden, wozu sie genau dienten.
Im Laufschritt durchquerte sie die Halle. Die Sohlen ihrer Turnschuhe machten auf dem Steinfußboden kaum ein Geräusch und ihr kam es vor, als ob das ganze Gebäude mit ihr den Atem anhielt.
Dann endlich war sie bei der Drehtür, und als die Flügel sich mit einem leisen Surren in Bewegung setzten, hätte Julia weinen können vor lauter Erleichterung.
*
Draußen war es kalt – eine eiskalte Mainacht in den Bergen. Einmal mehr wurde Julia bewusst, wie hoch das College lag. In ihrem dünnen Shirt fröstelte sie sofort, und das machte ihr klar, wie überheizt und stickig es im Gebäude gewesen war. Kein Wunder, dass sie keine Luft mehr bekommen hatte.
Sie schlang die Arme um den Oberkörper und sah sich um. In ihrem Rücken erhob sich das Collegegebäude. Es lag auf einem mächtigen Plateau über dem Lake Mirror. Von der Eingangshalle mit der verglasten Front fiel das Licht auf eine weite, gepflegte Rasenfläche mit Kieswegen und ordentlich angelegten Blumenbeeten. Offenbar investierte die Collegeleitung ziemlich viel Geld in die Außenanlagen und in den Empfangsbereich, während die Unterkünfte der Studenten vernachlässigt wurden. So nach dem Motto: Hauptsache, die Fassade macht einen vorbildlichen Eindruck.
Julia atmete tief ein. Die frische Luft tat gut, ihr Herzschlag wurde merklich ruhiger. Plötzlich kam ihr Verhalten ihr lächerlich und übertrieben vor. Was mussten die anderen denken, dass sie so davongestürzt war? War wirklich Robert der Freak oder war es nicht vielmehr sie, die hier durchdrehte?
Julia schüttelte den Kopf und setzte sich in Bewegung. Mit energischen Schritten ging sie den Hauptweg hinunter. Die Bewegung würde ihr helfen, den Kopf wieder freizubekommen. Kugelförmige Leuchten rechts und links des Weges sprangen plötzlich an, offenbar waren sie mit Bewegungsmeldern ausgestattet. Nach etwa dreihundert Metern endete das Plateau und Julia gelangte an eine breite Treppe, deren Stufen direkt hinunter zum Seeufer führten.
Verblüfft blieb Julia stehen. Sie hätte nie gedacht, dass der See so nahe am Collegegebäude lag. Von den Zimmern aus hatte es ausgesehen, als wäre er weiter entfernt.
Für einen Moment stand sie nur da und starrte hinunter auf den See, dessen Wasseroberfläche in der Dunkelheit glänzte, als sei er aus Glas.
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