Das sterbende Tier
Jahrtausendfeier. Die Zeitzonen leuchteten im Licht greller Explosionen, von denen keine das Werk Bin Ladens war. Lichtwirbel über dem nächtlichen London, spektakulärer als alles, was man seit den farbenprächtigen Rauchwolken im Gefolge deutscher Luftangriffe dort gesehen hatte. Und der Eiffelturm sprühte Feuer: der Nachbau eines Flammenwerfers, wie Wernher von Braun ihn für Hitlers Arsenal von Vernichtungswaffen konstruiert haben könnte - der historische Inbegriff des Flugkörpers, der Inbegriff der Rakete, der Inbegriff der Bombe. Das alte Paris war die Abschußrampe, und das Ziel war die gesamte Menschheit. Die ganze Nacht sah man auf allen Kanälen diese Farce des Armageddon, auf das wir seit dem 6. August 1945 in unseren Luftschutzkellern gewartet hatten. Wie hätte es auch anders sein sollen? Selbst in dieser Nacht, ja besonders in dieser Nacht erwarteten die Menschen das Schlimmste, als wäre sie eine einzige lange Luftschutzübung. Das Warten auf die Serie schrecklicher Hiroshimas, die mit ihrer synchronisierten Zerstörung die beharrlich überdauernden Kulturen der Welt miteinander verbinden würde. Jetzt oder nie. Doch die Zerstörung geschah nicht.
Vielleicht war es das, was alle feierten: daß die Katastrophe nicht eingetreten war, daß sie auch in dieser Nacht nicht eintrat, daß der Weltuntergang nun nie mehr kommen wird. All dieses Chaos ist beherrschtes Chaos, in regelmäßigen Abständen unterbrochen, um Autos zu verkaufen. Das Fernsehen inszeniert, was es am besten kann: den Triumph der Trivialisierung über die Tragödie. Den Triumph der Oberflächlichkeit, präsentiert von Barbara Walters. Nicht die Zerstörung der uralten Städte, sondern die internationale Eruption der Oberflächlichkeit, einen globalen Ausbruch von Sentimentalität, wie ihn selbst Amerikaner noch nie erlebt haben. Von Sydney über Bethlehem bis zum Times Square: Die Wiederverwertung von Klischees erfolgt mit Überschallgeschwindigkeit. Es detonieren keine Bomben, es wird kein Blut vergossen - der nächste Knall, den man hört, wird der Boom des Wohlstands und die Explosion der Märkte sein. Noch die kleinste Einsicht über das in unserer Zeit banalisierte Elend wird durch das freigebige Nähren der prächtigsten Illusionen ruhiggestellt. Ich sehe diese überdrehte Produktion eines inszenierten Pandämoniums und habe das Gefühl, daß die vom Geld besessene Welt daraufbrennt, in ein Zeitalter des Wohlstands und der Finsternis einzutreten. Eine Nacht menschlichen Glücks als Wegbereiterin von barbarei.com. Als angemessenes Willkommen für die Scheiße und den Kitsch des neuen Jahrtausends. Eine Nacht, an die man nicht zurückdenken, sondern die man vergessen möchte.
Mit Ausnahme der Szene auf dem Sofa, wo ich Consuela in ihrer Nacktheit umarme und mit den Händen ihre Brüste wärme, während wir zusehen, wie das neue Jahr in Kuba beginnt. Keiner von uns hatte erwartet, das auf dem Bildschirm zu sehen, doch dort, vor uns, ist Havanna. Aus einem mit Tausenden von Touristen vollgestopften Amphitheater, das sich Nachtclub nennt, wird eine einbalsamierte Polizeistaatversion jener heißen karibischen Shows gesendet, die in der Blütezeit des organisierten Verbrechens die Leute mit den großen Scheinen anlockten. Aus dem Tropicana Night-club des Tropicana-Hotels. Keine Kubaner weit und breit, bis auf die Unterhaltungskünstler, die in keiner Weise unterhaltend sind: eine Menge junger Leute - sechsundneunzig, wie ABC uns verrät -, die alberne weiße Kostüme tragen und eigentlich nicht tanzen oder singen, sondern im Kreis auf der Bühne umhermarschieren und in Handmikrofone grölen. Die Showgirls sehen aus wie langbeinige, beleidigt herumstelzende Latino-Transvestiten aus dem West Village. Auf den Köpfen tragen sie überdimensionale Lampenschirme - einen Meter hoch, sagt ABC. Lampenschirme auf dem Kopf und wallende Mähnen aus weißen Rüschen auf dem Rücken.
»Mein Gott«, sagte Consuela und begann zu weinen. »Und das«, sagte sie, und sie sagte es so wütend, »das zeigt er der Welt. Das zeigt er der Welt am Silvesterabend.« »Es ist tatsächlich eine ziemlich groteske Farce«, sagte ich. »Vielleicht ist es auch das, was Castro unter einem Witz versteht.«
Ist das so? frage ich mich. Handelt es sich hier um eine unbewußte Selbstironie - hat Castro sein Gespür so sehr verloren? -, oder ist die Satire beabsichtigt und im Einklang mit seinem Haß auf die kapitalistische Welt? Hat Castro, der die Korruption der Ära
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