Das stille Qi Gong nach Meister Zhi-Chang Li: Innere Übungen zur Stärkung der Lebensenergie (German Edition)
Die Erholung ging viel schneller und gründlicher vonstatten, als ich zu hoffen gewagt hatte. Der ekstatische Zustand flaute zwar ab, als ich wieder meinen üblichen Lebens- und Arbeitsrhythmus aufnehmen musste, aber die Inspiration, die er mir vermittelt hatte, und das Vertrauen in die Methode des Qi Gong blieben erhalten.
Die Zeit meiner weiteren Qi-Gong-Ausbildung war zugleich eine Zeit intensiver Selbstheilpraxis. Die Basis meiner langen Erfahrung mit kontemplativen Techniken erwies sich als überaus hilfreich im Umgang mit der »Inneren Kunst« des Qi Gong und bewahrte mich weitgehend vor Missverständnissen. In den Schwierigkeiten mancher meiner Qi-Gong-Mitschüler erkannte ich meine eigenen Anfangsschwierigkeiten auf dem Weg der meditativen Schulung wieder. Dazu gehörten übertriebene Erwartungen, Gier nach außergewöhnlichen Erfahrungen oder hochgestochene Interpretationen solcher Erfahrungen, unangemessene Projektionen auf den Lehrmeister und so weiter. Hinzu kommt bei Qi-Gong-Anfängern oft eine mechanistische Auffassung dieser »Energiearbeit« – ein Begriff, der die komplexe Kunst des Qi Gong allzu sehr vereinfacht. (Ich werde den Begriff dennoch gelegentlich verwenden, wenn der Aspekt des praktischen Übens im Vordergrund steht.)
Die Missverständnisse und Verzerrungen, die unvermeidlich entstehen, wenn man sich ein kulturfremdes System zu eigen machen möchte, hatte ich auf meinem buddhistischen Lernweg zur Genüge kennengelernt. Nach der bedrückenden Enge des überkommenen »mechanistischen« Weltbildes war es zu Beginn der siebziger Jahre eine ungeheure Erlösung gewesen, an die »Wiederverzauberung« unserer eindimensional gewordenen Welt glauben zu können und die Abgrenzung gegen andere Kulturen aufzuheben. Es war wunderbar, an die Macht des Geistes und damit an die Macht der Ideale zu glauben, anstatt an die Macht der Materie und des Rationalismus. Dass dies ein Sprung vom Regen in die Traufe war und das eine Extrem nur gegen das andere ausgetauscht wurde – die rationalistische Verengung gegen die »esoterische Inflation« –, vermochte ich, wie viele andere, erst nach einiger Zeit einzusehen, nachdem der geistige Rauschzustand der Blumenkinder-Phase vergangen war.
Der Wunsch, das alte enge Weltbild aufzubrechen und die geistige Expedition in fremde Kulturen zu wagen, war zunächst gewiss notwendig und gesund. Doch was am Anfang den Charakter einer Initiation in ein ganz neues Menschen- und Weltbild hatte, wurde oft zur Farce, zum erfolgreich vermarkteten Theater, und die nachahmende Geste ersetzte den langen Weg zur tatsächlichen Integration. Zen, Yoga, Taiji, indianische Rituale – alles wurde zur Ware im spirituellen Supermarkt. Dass alle Methoden der ganzheitlichen Heilung und Entwicklung der Disziplin, der Hingabe und eines langen Durchhaltevermögens bedürfen, wurde beim unterhaltsamen Shopping in diesem Supermarkt nicht berücksichtigt.
Um das Maß an möglichen Missverständnissen bei der Annäherung an Qi Gong so gering wie möglich zu halten, möchte ich deshalb zuerst die wichtigsten Schritte der Bewusstseinsarbeit beschreiben, die damit verbunden sein sollte.
Jenseits der Extreme
Es scheint, dass wir Menschen des Abendlandes nur schwer einen mittleren Weg finden zwischen den Extremen Rationalismus und Irrationalismus. Doch werden wir Systeme anderer Kulturen nur dann in der Fülle ihrer Möglichkeiten integrieren können, wenn wir lernen, die Gewohnheitsmuster unseres Denkens zu durchbrechen.
Qi Gong hat das Potenzial, eine Revolution in der westlichen Auffassung von »Lebensenergie« und im Umgang mit ihr einzuleiten. In unserer abendländischen Vergangenheit wurden zwar immer wieder Vermutungen über eine aller Existenz zugrunde liegende Ur-Energie angestellt, aber auf der praktischen Ebene blieb es bei Zufallstreffern. Mesmers Theorie vom »animalischen Magnetismus« und Reichs »Orgon«-Theorie beruhen ohne Zweifel auf bestimmten Erfahrungen mit jener »Energie«, die in der chinesischen Tradition als Qi bezeichnet wird. Doch im Gegensatz zu den westlichen Ansätzen basiert die chinesische Energiearbeit auf einem über Jahrtausende gewachsenen, von vielen Generationen erprobten und systematisierten Wissen um die Funktionsweise der vitalen Kräfte.
Die authentische Überlieferung dieses Wissens hat durch den Zerfall des chinesischen Reiches und die kommunistische Herrschaft sehr gelitten. Zwar entstand ein Untergrund, in dem die verbotene klassische Medizin
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