Das stille Qi Gong nach Meister Zhi-Chang Li: Innere Übungen zur Stärkung der Lebensenergie (German Edition)
erweisen sich Aussagen, die sich auf angebliche wissenschaftliche Beweiskräftigkeit stützen, nur zu oft als falsch.
Wir beginnen sowohl die Rigidität der alten Maßstäbe als auch ihre Relativität immer klarer zu sehen. Doch der Verzicht auf alle Maßstäbe kann keine Lösung sein. Ganz offensichtlich öffnet solch ein Verzicht der Verwirrung und Verdummung, dem Selbstbetrug und der Scharlatanerie alle Tore. So liegt das schwerwiegendere Verständnisproblem westlicher Menschen meiner Ansicht nach in der »Maßstabslosigkeit«, in einer speziellen Art von Verwirrung, die im Zusammenhang mit Qi Gong eine ernstzunehmende Bedrohung für die geistige Gesundheit der fehlgeleiteten Adepten darstellen kann.
Alte Kulturen hatten diese Schwierigkeiten nicht. Es muss also offensichtlich noch eine andere Möglichkeit des Verstehens geben – ein »mittleres«, nicht in extremen Positionen befangenes, weder rational noch irrational fixiertes, kreativ umkreisendes, komplexes Verstehen. Westliche Wissenschaftler und Denker sind auf dem Weg einer Analyse unserer Erkenntnisweisen und der Erneuerung des Wissenschaftsbegriffs schon ein gutes Stück weit in die Richtung solch eines integralen Verstehens vorgestoßen. Das wussten meine chinesischen Gesprächspartner nicht, und das weiß auch leider ein großer Teil all jener grundsätzlich aufgeschlossenen Leute nicht, die sich auf kulturfremde Methoden zur Heilung/Transformation von Körper und Geist einlassen. Darum möchte ich zur Verständnishilfe diese neue westliche Entwicklung kurz umreißen.
Auf dem Weg zu einem neuen Verstehen
Der Kernphysiker und Molekularbiologe Jeremy Hayward beschreibt unser modernes Weltanschauungsdilemma zwischen dem Newtonschen Zeitalter und dem neu entstehenden »holistischen« wissenschaftlichen Weltbild mit den Worten:
Es kristallisiert sich ein Bild der Welt heraus, das ganz anders ist als das Weltbild, das man uns in der Schule vermittelt hat, auf das wir alle, Wissenschaftler wie Laien, unser Leben gründen und das unseren Kindern leider nach wie vor vermittelt wird. [8]
Und der Physiker Fritjof Capra schrieb schon 1977: »Die achtziger Jahre werden deshalb eine revolutionäre Zeit sein, weil die gesamte Struktur unserer Gesellschaft nicht mit der Weltsicht eines neu entstandenen wissenschaftlichen Denkens übereinstimmt.« [9]
Die Umwälzung, die sich im Wissenschaftsverständnis anbahnt, spiegelt die Umwälzung, auf die sich das gesamte abendländische Denken zubewegt. Wie dringend notwendig dieses Umdenken ist, zeigt der Zustand unseres missbrauchten, ausgebeuteten, kranken Planeten – so missbraucht, ausgebeutet und krank wie Körper und Geist eines allzu großen Teils seiner Bewohner. Wir müssen uns fragen, wie es so weit kommen konnte – denn zu solchen drastischen Konsequenzen kommt es nicht ohne lange und folgerichtige Entwicklungen. Unsere heutige Situation ist nach dem Modell des Philosophen Jean Gebser der vorläufige Endpunkt einer kollektiven Bewusstseinsentwicklung und zugleich – hoffentlich – ein Übergangsstadium auf dem Weg zu einem neuen, über alle früheren Erscheinungsformen hinausgehenden Bewusstsein. Natürlich muss man solche Modelle mit Vorsicht verwenden, denn sie sind ja nur abstrakte Landkarten des lebendigen Geschehens; aber zur Orientierung und Inspiration können sie dennoch helfen.
Ich möchte dieses Modell kurz umreißen, weil es uns Hinweise darauf geben kann, welche Entwicklungsprozesse in uns selbst nötig sind, um die besagten alten und neuen Fehler im Umgang mit der Inneren Kunst des Qi Gong zu vermeiden.
Das Bewusstseinsmodell von Jean Gebser
Nach Gebser entwickelte sich das menschliche Bewusstsein aus einem Urzustand heraus, den er als »archaische Struktur« bezeichnete, »die Zeit, da die Seele noch schläft«. Doch wie ein Kind aus dem Schoß der Mutter geboren werden muss, musste das menschliche Bewusstsein aus diesem Zustand der Urzeit, aus dem Mutterschoß der unterschiedslosen Einheit, in dem es sich noch nicht als verschieden von der Welt erfuhr, in den Zustand des Bewusstseins von der Welt und von sich selbst geboren werden. Dieses Erwachen des Bewusstseins schlüsselt Gebser in drei aufeinanderfolgende strukturelle Phasen auf: in die »magische«, die »mythische« und die »mentale« Struktur.
Im magischen Zeitalter ist der Mensch nicht mehr einfach nur in der Welt, sondern erlebt sich als gesondert von ihr, fühlt sich, weil das »andere« ja das Fremde,
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