Das Stonehenge - Ritual
seinem Büro, wo er eben noch damit beschäftigt war, die Ergebnisse einer Grabung bei einem megalithischen Tempel auf Malta durchzugehen.
Die Polizistin hatte sich völlig klar ausgedrückt. »Ihr Vater ist tot. Er hat sich erschossen.« Rückblickend kann er sich kaum vorstellen, wie sie es ihm noch deutlicher hätte sagen sollen. Da war kein Wort zu viel gewesen. Natürlich hatte sie irgendwo ein »Es tut mir leid« eingeflochten und ihm ihr Beileid ausgesprochen, aber zu dem Zeitpunkt hatte das brillante Gehirn des Achtundzwanzigjährigen, der kurz vor seiner Berufung zum Professor stand, bereits dichtgemacht.
Vater. Tot. Erschossen.
Drei kleine Wörter, die das größtmögliche Bild zeichneten. Als Antwort aber brachte er nur ein »Oh« heraus. Er bat sie, das gerade Gesagte zu wiederholen, um sicherzugehen, dass er sie richtig verstanden hatte. Wobei er durchaus wusste, dass er sich nicht verhört hatte. Es war ihm nur so peinlich, dass er nichts anderes sagen konnte als »Oh«.
Es war Jahre her, dass Vater und Sohn das letzte Mal miteinander gesprochen hatten. Eine ihrer schlimmsten Auseinandersetzungen. Gideon war wutentbrannt hinausgestürmt und hatte geschworen, nie wieder ein Wort mit dem alten Bock zu sprechen. Es war ihm nicht schwergefallen, sein Wort zu halten.
Selbstmord
.
Was für ein Schock. Der große Professor hatte sein Leben lang davon gefaselt, ein kühner, wagemutiger und positiv denkender Mann zu sein. Wie konnte er sich da das Gehirn wegblasen? Gab es etwas Feigeres? Gideon verzieht das Gesicht. O Gott, geht ihm durch den Kopf, das muss ein grauenhafter Anblick gewesen sein.
Benommen wandert er in seinem kleinen Büro herum. Die Polizei will, dass er nach Wiltshire fährt und ihnen ein paar Fragen beantwortet – ihnen hilft, ein paar Leerstellen zu füllen. Dabei ist er im Moment nicht mal sicher, ob er zur Tür hinausfinden wird, geschweige denn den ganzen Weg nach Devizes.
Kindheitserinnerungen brechen über ihn herein wie eine Reihe kippender Dominosteine. Ein Weihnachtsbaum mit Kerzen. Ein schmelzender Schneemann auf dem Rasen vor dem Haus. Gideon im Vorschulalter, der im Pyjama die Treppe heruntergesaust kommt, um Geschenke auszupacken. Sein Vater, der mit ihm spielt, während seine Mutter eine Mahlzeit bereitet, von der ein ganzes Dorf satt geworden wäre. Er kann sich daran erinnern, wie die beiden sich unter dem Mistelzweig küssen, während er, Gideon, die Arme um ihre Beine schlingt, bis ihnen nichts anderes mehr übrigbleibt, als ihn hochzuheben und mit einzubeziehen. Dann kommt der große Schlag. Als Sechsjähriger muss er den Schmerz ertragen, seine Mutter zu verlieren. Die Stille des Friedhofs. Die Leere ihres Hauses. Die Veränderung seines Vaters. Die Einsamkeit des Internats.
Es gibt so vieles, über das er nachdenken muss, während er auf dem Weg nach Wiltshire in Richtung Süden fährt – in die Grafschaft, aus der seine Mutter stammte und die sie immer liebevoll in Andenken an den großen Dichter »Thomas-Hardy-Land« genannt hatte.
4
Wiltshire
Nur wenige wissen von seiner Existenz. Ein geheimes Gewölbe aus kaltem Stein, von prähistorischen Architekten zu epischen Dimensionen ausgehöhlt. Ein Ort, den kein Uneingeweihter je zu sehen bekommt.
Das Heiligtum der Jünger ist ein weithin unbekanntes Wunder. Obwohl es die Größe einer Kathedrale hat, ist von oben nur eine kleine Bodenwelle auf einem Feld zu erkennen, für das menschliche Auge kaum wahrnehmbar. Unterirdisch aber handelt es sich um das Juwel einer alten Zivilisation, geschaffen von einem Volk, dessen Brillanz selbst den klügsten Köpfen der Gegenwart Rätsel aufgibt.
Dreitausend Jahre vor Christus entstanden, ist dieser Ort ein einziger Anachronismus: ein riesiger Tempel, von der Wirkung her ebenso unzeitgemäß, atemberaubend und irreal wie die Große Pyramide von Gizeh.
In seinen unterirdischen Gräbern sind die Architekten bestattet, die sowohl Stonehenge als auch das Heiligtum erbauten. Ihre Gebeine ruhen inmitten von mehr als zwei Millionen Steinblöcken, die alle gleichen Ursprungs sind. Genau so, wie das Monument von Gizeh eine nahezu vollkommene Pyramide ist, handelt es sich bei diesem Heiligtum um eine nahezu vollkommene Halbkugel, eine Kuppel über einem kreisrunden Boden, wie ein kalter, in der Mitte durchgeschnittener Mond.
Nun hallen Schritte den Abstieg hinunter, als würde plötzlich Regen in die Höhlenkammern fallen. Im Kerzenlicht der Kleineren Halle versammelt sich der
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