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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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zur Skulptur und fuhr mit einer Hand über den noch immer warmen Stein. Dann, mit plötzlicher Entschlossenheit, schwang sie sich rittlings auf den Löwen.
      Er war klein genug, dass ihre Füße den Boden berührten. Weiter den Weg hinunter konnte sie durch die Bäume die Lichter der Hauptstraße sehen und nur wenige hundert Meter entfernt die Abzweigung zu der Straße, in der sie wohnte. Seltsam, dass sie so lange hier gelebt und immer auf dem Löwen hatte sitzen wollen, es aber erst jetzt, in ihrer letzten Nacht, Wirklichkeit werden ließ. Sie musste mindestens tausendmal an ihm vorbeigekommen sein. Sie kam sich kindisch vor, doch gleichzeitig genoss sie es sehr. Immerhin schaute niemand zu.
      Sie griff in die glatte Mähne und stellte sich vor, durch den Urwald zu reiten. Im Geiste konnte sie kreischende Kakadus, keckernde Affen, summende und zirpende Insekten und durchs Unterholz gleitende Schlangen hören. Sie hob ihren Kopf, um erneut den Mond zu suchen, doch bevor sie ihn finden konnte, bemerkte sie einen seltsamen Geruch und spürte, nur den Bruchteil einer Sekunde später, eine raue Hand, die ihren Mund und ihre Nase bedeckte.
     
     

* 5
    Martha
     
    Es war Flut, als Martha unter dem Kieferknochen des Wales zurück zur Pier Road ging, am Hafen schaukelten die kleinen Fischerboote in ihrer Verankerung. Hinter West Cliff senkte sich die Sonne und auf dem Gipfel des gegenüberliegenden Hügels ließen die letzten Sonnenstrahlen die St. Mary's Church in einem warmen Goldton leuchten.
      In den Auktionshallen war immer noch nichts los, doch einige Einheimische schienen an ihren kleinen Booten herumzuwerkeln.
      Martha lehnte sich gegen das Geländer in der St. Ann's Staith und beobachtete zwei Männer in marineblauen Pullovern, die das Deck eines roten Segelbootes schrubbten. Sie hatte ihre Steppjacke mitgenommen, die Luft war jedoch so warm, dass sie sie über die Schulter geschwungen hatte. Wenn es dunkel wurde, schien der Ort stärker nach Fisch zu riechen.
      Die Luft hatte etwas an sich, das ihr Lust auf eine Zigarette machte. Vor dem letzten Jahr hatte sie nie geraucht, doch nun machte sie sich darüber keine Gedanken. Sie würde tun, was immer sie wollte, und auf die Konsequenzen pfeifen.
      Sie ging in einen kleinen Andenkenladen nahe des Dracula-Museums und kaufte eine Zehnerschachtel Rothmans; die würde für eine Weile reichen. Dann stellte sie sich zurück ans Geländer und zündete sich eine Zigarette an. Einer der Männer unten auf dem Boot schaute hin und wieder fasziniert zu ihr hoch, rief aber nichts und pfiff auch nicht. Sie wartete darauf, dass die beiden etwas sagten. Schließlich ließ der eine etwas Technisches verlauten, auf das der andere in ähnlich unverständlichem Jargon antwortete, und Martha ging weiter.
      Sie verspürte Hunger, ließ die Zigarette fallen und trat sie auf dem steinernen Kai aus. Unten bei der Brücke sah sie Leute entlangschlendern, die Fish and Chips aus Pappkartons aßen. Ihr war nicht aufgefallen, dass irgendwo anderes Essen angeboten wurde; man konnte kaum behaupten, dass der Ort mit französischen, italienischen oder indischen Restaurants übersät war, bisher hatte sie nicht einmal ein McDonald's oder eine Pizza Hut gesehen. Whitby war eine dieser Fish-and-Chips-oder-gar-nichts-Städte.
      An der erstbesten Fischtheke kaufte sie Schellfisch mit Pommes und spazierte beim Essen am Busbahnhof umher. Der Fisch war natürlich mit Panade frittiert und hatte einen öligen Geschmack, weil die Haut nicht entfernt worden war. Dennoch war er gut, und als sie aufgegessen hatte, leckte sich Martha die Finger. Anschließend warf sie den Karton vorsichtig in einen Abfalleimer.
      Mittlerweile war es fast dunkel. Eine Weile stand sie auf der Brücke und rauchte eine weitere Zigarette, um den fettigen Geschmack loszuwerden. Im unteren Hafen lag noch immer der rostige Kahn am Pier, den sie schon vorher gesehen hatte. Auf der Nordseite der Brücke, wo sich die Mündung zum Meer öffnete, spiegelten sich die roten und gelben Molenlichter im dunklen Wasser und drehten und bogen sich im Wellengang wie die Reflektionen von Menschen in Kirmesspiegeln. Auf dem Gipfel der Klippe zeichnete sich die St. Mary's Church, inzwischen von Strahlern beleuchtet, vor dem dunkelvioletten Himmel ab.
      Martha ging über die Brücke zur Church Street in den ältesten, genau unterhalb East ClifFs gelegenen Stadtteil und kaufte sich unterwegs eine Zeitung, bevor die Läden

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