Das stumme Lied
keinen Ton hervor. Sanfte Hände berührten ihre Stirn und drückten ihre Schultern entschlossen zurück auf das harte Bett. Sie ließ ihren Kopf wieder in das Kissen fallen und seufzte. Die Stimmen waren jetzt deutlicher, wie ein Radio, dessen Sender feiner eingestellt wurde.
»Ist alles in Ordnung mit ihr? Können wir bleiben und mit ihr reden?«
»Sie wird reden, sobald sie es will. Drängen Sie sie nicht. Sie wird erst einmal nicht wissen, wo sie ist.«
Kirsten versuchte zu sprechen, doch ihr Mund war immer noch zu ausgetrocknet. Sie krächzte, »Wasser«, und jemand schien zu verstehen. Ein geknickter Strohhalm näherte sich ihrem Mund und sie sog gierig daran. Ein Teil des Wassers tropfte über ihre trockenen, aufgerissenen Lippen, ein bisschen konnte sie jedoch schlucken. Danach fühlte sie sich besser.
»Ich muss gehen und den Doktor holen.«
Die Tür ging auf und zischte langsam zu.
»Kirstie? Kirstie, Liebes?«
Sie drehte ihren Kopf und konnte ihren Blick nun schon besser fokussieren. Ihre Mutter und ihr Vater saßen neben ihr. Sie versuchte zu lächeln, doch es fühlte sich an, als brächte sie nur ein schiefes Grinsen hervor. Die Zähne fühlten sich zu groß für ihren Mund an. Ihre Mutter sah selbst so mitgenommen aus, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen, und ihr Vater hatte dunkle, tiefe Ringe unter den Augen. Er schaute mit einer Mischung aus Zuneigung und Erleichterung auf sie herab.
»Hallo, Daddy«, sagte sie.
Er streckte seine Hand aus, und sie fühlte sie zart auf der ihren liegen, genau wie damals in ihrer Kindheit, als sie im Wald spazieren gegangen waren.
»O Kirstie«, sagte ihre Mutter und tupfte ihre Augen mit einem Taschentuch. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht.«
Ihr Vater sagte immer noch nichts. Seine Berührung erzählte Kirsten alles, was sie wissen musste.
»Weshalb? Wo ...«
»Sprich lieber nicht«, sagte ihr Vater sanft. »Alles ist in Ordnung. Jetzt ist es vorbei. Alles wird gut werden.«
Ihre Mutter tupfte sich immer noch die Augen und schniefte leise.
Kirsten drehte ihren Kopf wieder zur Seite und starrte auf den Riss in der Decke. Sie fuhr mit der Zunge über ihre trockenen Lippen. Nach und nach kehrte ihre Empfindung zurück. Jetzt konnte sie den sauberen, weißen, antiseptischen Geruch des Krankenhauszimmers wahrnehmen. Außerdem konnte sie ihren Körper spüren. Ihre Haut fühlte sich straff an und spannte sich zu fest über ihr Fleisch und ihre Knochen. An manchen Stellen zwickte sie, als wäre sie irgendwo hängen geblieben und verrutscht.
Aber noch schlimmer war der brennende Schmerz in ihren Brüsten und den Leisten. Dort hatte sie kein Gefühl für das feste Fleisch, nur das einer schmerzhaften, pochenden Abwesenheit.
Die Tür ging auf und ein Mann in einem weißen Kittel kam zu ihr. Sie zuckte zusammen und versuchte sich wegzurollen.
»Schon in Ordnung«, hörte sie jemanden sagen. »Der Doktor wird sich um Sie kümmern.«
Dann spürte sie, wie ihr Ärmel hochgeschoben wurde und ein kühler Tupfer ihren Arm berührte. Sie spürte nicht, wie die Nadel eindrang, aber sie erzeugte ein brennendes Stechen, als sie herausglitt. Der Schmerz begann nachzulassen. Warme, wohltuende Wellen kamen auf und trieben ihn weit aufs Meer hinaus.
Ihre Empfindungen verebbten und die allumfassende Dunkelheit zog auf, um wieder Besitz von ihr zu ergreifen. Als sie wegsackte, konnte sie immer noch die Hand ihres Vaters in der ihren spüren. Langsam drehte sie ihren Kopf und fragte: »Was ist mit mir passiert, Daddy? Meine Haut fühlt sich seltsam an. Sie passt nicht richtig.«
* 9
Martha
Als Martha am nächsten Morgen zum Frühstück nach unten kam, saßen die anderen Gäste bereits dort. Nur ein kleiner Tisch, für zwei Personen gedeckt, war noch frei. Hinter dem Erkerfenster schien die Sonne auf die Abbey Terrace, der Himmel war wieder blau.
Neben der Tür stand ein Teewagen, von dem man sich selbst bedienen durfte: Krüge mit Orangen- und Grapefruitsaft, Milch und Miniaturpackungen Cornflakes, Special K, Rice Krispies, Alpen und Frosties. Martha nahm eine Portion Alpen, goss sich ein Glas Saft ein und setzte sich. Aus der rostfreien Metallkanne auf dem Tisch schenkte sie sich eine Tasse Tee ein. Der Farbe nach zu urteilen, hatte der Tee zu lange gezogen. Sie betrachtete den Platz ihr gegenüber und hoffte, dass sich niemand zum Frühstück zu ihr gesellen
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