Das stumme Lied
schlossen. Es war die Ruhephase zwischen Abendessen und Zubettgehen. In Orten wie Whitby wurden früh die Bürgersteige hochgeklappt. Martha war durstig, doch das Monk's Häven Café war bereits geschlossen; es gab keine Möglichkeit mehr, irgendwo eine Tasse Tee oder Kaffee zu bekommen. Doch sie musste sich hinsetzen und eine Weile nachdenken.
Der Black Horse Pub auf der anderen Straßenseite sah recht einladend aus. Martha ging hinein. Antike Messingleuchten an den Wänden verbreiteten in dem kleinen, holzvertäfelten Raum echtes Gaslicht. Der mit schmalen Holzbänken wie in der Kirche und zerkratzten, rechteckigen Tischen eingerichtete Salon war gemütlich. Außerdem war es ruhig.
Martha holte sich an der Theke ein halbes Pint Bitter und fand eine freie Ecke. Vor ein paar Jahren hätte sie nicht einmal im Traum daran gedacht, allein in einen Pub zu gehen, geschweige denn in einem zu sitzen. Doch dieses Lokal machte einen sicheren Eindruck. Die wenigen Gäste schienen sich zu kennen und waren in Gespräche vertieft. Es gab keine einsamen Wölfe auf der Jagd nach Frauenfleisch; es handelte sich eindeutig nicht um einen Aufreißschuppen.
Sie blätterte kurz durch den Independent, da sie jedoch keinen interessanten Artikel fand, faltete sie die Zeitung wieder zusammen und legte sie zur Seite. Zunächst einmal musste sie eine Art Plan ausarbeiten, dachte sie. Keinen zu detaillierten oder ausgeklügelten, denn sie hatte in letzter Zeit gelernt, dass Spontaneität und Intuition eine größere Rolle bei Ereignissen spielten, als man gemeinhin annahm. Und sie musste sich daran erinnern, dass sie bei ihrer Aufgabe nicht allein war; es gab Seelen, die sie führten. Trotzdem konnte sie nicht einfach tagelang ziellos durch den Ort irren. Noch war alles in Ordnung; sie orientierte sich und machte sich mit der Umgebung vertraut. Sie musste bestimmte Örtlichkeiten auskundschaften: geschützte Plätze, abgelegene Wege, die verborgenen Stellen der Stadt. Dennoch benötigte sie einen groben Handlungsplan.
Nachdem sie ein kleines Notizbuch und ihren Reiseführer hervorgeholt hatte, begann sie mit der Arbeit. Zuerst begutachtete sie die Karte und notierte sich all jene Orte, die eine nähere Untersuchung wert zu sein schienen: den Strand, den Friedhof von St. Mary's, das Gelände der Abtei, den langen Klippenweg in Richtung Robin Hood's Bay. Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit ernsthafteren Problemen: Wo konnte sie jemanden finden, der tatsächlich in Whitby lebte und arbeitete? Wo würde so jemand zum Beispiel wohnen? Bisher hatte sie lediglich Urlauber und solche Einwohner gesehen, die Gasthäuser, Pubs oder Läden führten. Sonst schien in der Hafengegend, wo die Männer an ihren Booten arbeiteten, niemand zu wohnen.
Sie schlug erneut ihre Karte auf, um ein Bild von der Größe der Stadt zu bekommen. Sie war klein, hatte ungefähr dreizehntausend Einwohner, und East Cliff schien sich kaum über St. Mary's hinaus auszudehnen. Damit blieben der südliche Teil, der sich entlang der Eskmün-dung weiter ins Landesinnere erstreckte, und West Cliff. Dort oben schienen sich die Wohngebiete laut ihrer Karte bis fast nach Sandsend auszubreiten. Und dann gab es kleinere Orte in der nahen Umgebung wie eben Sandsend oder Robin Hood's Bay. Das waren zwar keine Vororte, dennoch war es möglich, dass dort Leute wohnten, die nach Whitby pendelten.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der es ihr so vorgekommen war, als suchte sie eine Nadel im Heuhaufen. Schließlich hatte sie nur wenig Anhaltspunkte, von denen sie ausgehen konnte. Doch mittlerweile vertraute sie ihren Instinkten. Es konnte keinen Zweifel geben; sie würde wissen, wann sie denjenigen gefunden hatte, den sie suchte. Ihre Seelen würden ihr helfen, sie zu ihm zu führen. Und Whitby schien der richtige Ort zu sein; sie konnte seine Nähe spüren.
Martha nippte an ihrem Bier. Jemand wählte in der Jukebox einen alten Rock'n'Roll Song, der sie an etwas lange Vergangenes erinnerte, an einen anderen Abend, an dem sie alten Songs aus der Jukebox gelauscht hatte. Sie verdrängte das. Erinnerungen und Sentimentalitäten waren Luxusgüter, die sie sich jetzt nicht leisten konnte. Sie steckte eine Hand in ihre Tasche und tastete nach der glatten, harten Kugel.
* 6
Kirsten
Eine lange, ölige Finsternis, unterbrochen von kurzen, lebhaften Träumen. Eine Gestalt war über sie gebeugt, dunkel und mit einer Kapuze, eine Klinge blitzte auf. Sie schien in
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