Das Tal der Hundertjährigen
geschmückt, das Abendessen |41| wird bei Kerzenlicht serviert. Leise läuft im Hintergrund englische Musik – ein kleines Zugeständnis an die Gäste aus der
anderen Welt.
Das Hotel ist umgeben von üppigster Vegetation, fast wie im Urwald. Wild wuchernde Natur, hier kann sie sich noch frei entfalten.
Beeindruckt von der Naturgewalt, stelle ich sogleich die bange Frage, ob es Moskitos gibt.
»Nein, nein, keine Sorge«, beruhigt mich Merci, die attraktive Dunkelhaarige an der Rezeption, die mich um meinen Pass gebeten
hatte.
Zum Glück. Ich hasse Moskitos und vermute, dass dieser Hass auf Gegenseitigkeit beruht, denn die kleinen Biester kennen keine
Gnade mit mir. Als beliebtes Opfer habe ich zwar stets ein Abwehrspray im Rucksack. Aber ich käme mir wie der Teufel persönlich
vor, wenn ich in Vilcabamba zu Chemiewaffen greifen würde.
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Ich bin ein Großstadtmensch. Täglich nutze ich Gas, Strom und Telefon. Mein Essen kaufe ich im Supermarkt ein; ich habe mich
nie eingehend damit beschäftigt, wo es hergestellt wird und wie es zu mir gelangt. Ich habe einen Gefrierschrank und eine
Mikrowelle. Wenn ich Kopfschmerzen habe, nehme ich ein Schmerzmittel. Wenn die Entfernung es rechtfertigt, steige ich, ohne
mit der Wimper zu zucken, in ein Auto, das mit fossilem Brennstoff betrieben wird. In ein Taxi, zum Beispiel. Will sagen:
Ich habe nicht gerade die intensivste Beziehung zur Natur.
Und jetzt befinde ich mich mitten in der Nacht in diesem abgelegenen Dorf, irgendwo im tropischen Nirgendwo. Und das eben
genau nicht, weil ich die Natur genießen, sondern weil ich ein Buch schreiben will. Das scheint der Natur nicht zu gefallen,
sie bricht rücksichtslos in mein Zimmer ein. Moskitos gibt es keine, Merci hat nicht gelogen, aber dafür gibt es so ungefähr
alles andere.
|43| Ich bin gerade dabei, meine Sachen auszupacken, als ich eine Tarantel entdecke. Eine faustgroße Spinne mit acht haarigen Beinen.
Ich oder sie. Kaum habe ich das Viech erledigt und schlage seufzend die Bettdecke zurück, sehe ich ein ganzes Bataillon stecknadelkopfgroßer
Tierchen munter über das Laken springen. Das sind definitiv keine Flöhe, aber letztlich will ich es so genau gar nicht wissen.
Durch eine Ritze im Fensterrahmen strömen, geordnet in einer Marschkolonne, Ameisen in den Raum, an den Wänden klettern kleinere
Spinnen hinauf zur Decke. Herr im Himmel!
Mein Handy klingelt. Ein Anruf aus der Wohnung meiner Eltern, man erkundigt sich, ob ich gut angekommen bin, und teilt mir
mit, dass meine Mutter sich weigert, ihre Medikamente zu nehmen.
»Geben Sie sie mir mal«, sage ich, nicht über die Maßen begeistert.
In diesem Moment flattert eine riesige Motte, mit Flügeln so groß wie Briefpapierbögen, über mich hinweg, und als ich zur
Tür schaue und eine weitere Tarantel anrücken sehe, ist mir klar, dass ich an diesem Ort, in diesem Zimmer kein Auge werde
zubekommen können.
Während ich telefoniere, pendelt die Deckenlampe, von unsichtbarer Hand angestoßen, wild hin und her; zugleich fängt das Metallbett
an zu |44| wackeln wie in einem Exorzistenfilm. Ich schiebe es auf den kräftigen Wind, der plötzlich aufgekommen ist. Doch es ist nicht
der Wind.
Wir schreiben den 16. November 2007, es ist 22 Uhr 15, und es gibt etwas, das die massive Invasion der Insekten, das Ruckeln
des Bettes und das Pendeln der Lampe erklärt, auch wenn ich es in jenem Augenblick nicht begreife: Unter mir bebt die Erde.
Am nächsten Morgen, nach dieser im wahrsten Sinne des Wortes bewegten Nacht, sieht die Welt schon wieder anders aus. Die Sonne
wärmt angenehm, und vom Fenster aus kann man das gesamte Tal überblicken.
Im Frühstücksraum dreht sich alles um ein einziges Thema: das Erdbeben. Alle sind aufgewühlt, jeder kann sich exakt an den
Moment der Erschütterung erinnern. Nur ich nicht. Natürlich habe ich gemerkt, dass etwas nicht stimmte, aber ich bin so abgelenkt
von den ganzen Tieren in meinem Zimmer und dem Anruf gewesen, dass ich mir der Gefahr gar nicht bewusst war. Unter mir hätte
sich die Erde auftun können, ich hätte weiter den Kampf mit der Tarantel ausgefochten.
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In Vilcabamba gibt es die Betagten und die Zentenare: Ab neunzig gehört man zu den Betagten und mit über hundert zu den Zentenaren.
In einem viersitzigen Jeep mit Allradantrieb fahren wir zu der Finca eines der Hundertjährigen, die im Gebirge leben. Chauffiert
werde
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