Das Tal der Hundertjährigen
hinein, dem sie gewillt ist, Einlass zu gewähren. An der Zimmertür ist ein Haken aus Holz angebracht. |185| Dort hängt die Mütze des Begleiters, den sie für die jeweilige Nacht ausgewählt hat. Sie ist das untrügliche Zeichen für jeden,
der sein Glück versuchen will, dass die Frau beschäftigt ist und nicht gestört werden möchte.
Eine Besuchsehe hat wenig mit dem zu tun, was man in westlichen Kulturkreisen gemeinhin unter Ehe versteht. Jeder lebt in
seinem Haushalt, unter dem Dach der Matriarchin seines Clans. Nur in der Nacht und unter Einhaltung größter Diskretion besucht
ein Mann die Frau, mit der er eine Verabredung getroffen hat, in ihrem Zimmer; die Verwandten sollen davon nichts mitbekommen.
Über das Sexualleben einer Frau wird nicht gesprochen, Anspielungen darauf, zumal aus dem Mund männlicher Familienmitglieder,
sind verpönt.
Vor dem Zubettgehen drehe ich eine letzte Runde zum Ufer des Sees. Dort treffe ich auf eine Gruppe von Freunden, die sich
nach dem Abendessen bis Mitternacht hier versammeln. Danach machen sie sich auf den Weg zu ihren Geliebten, wo sie mit einem
leisen Klopfen an die Tür darum bitten, empfangen zu werden. Immer ist die Frau diejenige, die empfängt, der Mann muss zu
ihr kommen, sie in ihrem Gemach aufsuchen. Das Gegenteil ist tabu.
Die Besuchsehe beinhaltet keinerlei verpflichtende |186| Bindung. Man verbringt eine Nacht zusammen, und nicht zwangsläufig pflegt man darüber hinaus den Kontakt. Wenn ein Treffen
nicht zuvor vereinbart wurde, weiß nur der Mann, zu wem er geht. Die Wartende in ihrem Zimmer muss sich überraschen lassen,
wer des Nachts an ihre Tür klopft.
Sowohl Männer aus anderen Dörfern als auch Reisende können mit den Mosuo-Frauen eine Besuchsehe eingehen. Aber selbstverständlich
entscheiden die Damen, ob sie ihre Tür öffnen oder nicht.
Wenn ein Besucher von weither kommt, ist die Frau stolz darauf, dass die Kunde von ihrer Schönheit offenbar in die Welt getragen
wurde. Die Mosuo sind eine Gemeinschaft, die starke, dominante und eigenwillige Frauen hervorbringt, doch attraktiv und verführerisch
möchte eine Mosuo wie jede andere Frau auch sein.
Ich mache mich auf den Weg zurück zu meiner Unterkunft und bemerke gerade noch, wie die Matriarchin das Haus durch den Haupteingang
verlässt. Als sie längst außer Sichtweite ist, hört man immer noch das Klimpern des von ihrer Hüfte baumelnden Schlüsselbundes.
Von meinem Fenster aus kann ich in eines der Frauengemächer sehen: Ein junges Mädchen sitzt |187| vor einem Spiegel und frisiert sich mit einer silbernen Bürste das schwarze Haar. Sie wiederholt ein jahrhundertealtes Ritual:
Auf einem der Stühle liegt ein Kopfputz, das Mädchen nimmt ihn und richtet die drei ihn schmückenden Perlenreihen. Dann neigt
sie den Kopf, um ihn aufzusetzen. Das schwarze Kunsthaar lässt ihr eigenes noch dichter erscheinen. Sie beginnt einen Zopf
zu flechten und schaut dabei verträumt aus dem Fenster, das zum See hinausgeht.
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Informationen zum Buch
Das Geheimnis der ewigen Jugend
Eine faszinierende Reise zu dem einzigen Ort der Welt, an dem die Menschen bis zu 130 Jahre alt werden. Sie rauchen, trinken,
lieben, arbeiten – und haben dabei viel Spaß.
Niemand in Vilcabamba denkt daran, sich mit hundert zur Ruhe zu setzen. Das Andendorf im Süden Ecuadors birgt ein Geheimnis,
das immer mehr Neugierige anzieht: Es gilt als südamerikanisches Shangri-La, seine Einwohner erreichen ein biblisches Alter.
Auch mit 120 erfreuen sie sich einer beneidenswerten Gesundheit und benötigen weder Brille noch Hörgerät. Nach getaner Feldarbeit
rauchen, trinken und feiern sie. Erst wenn die Menschen im heiligen Tal den Moment für gekommen halten, verabschieden sie
sich vom Leben und sterben – ein selbstbestimmtes Dasein bis zum Ende. Mehrere Male besuchte der Journalist Ricardo Coler
das Dorf Vilcabamba, um einem Mysterium auf den Grund zu gehen.
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