Das Tal der Hundertjährigen
Überhundertjährigen, und er konsumiert Drogen. Sein ganzes Leben
schon. Damit nicht genug, es schmecken ihm auch die handelsüblichen Zigaretten gut. Er raucht, nicht übermäßig, aber immerhin.
In der letzten Zeit, sagt er, wird ihm dabei etwas schwindelig, die Finger lässt er trotzdem nicht davon.
»Als ich jünger war, mit siebzig oder so, da habe ich weit mehr geraucht.«
»Und wie sieht es mit Alkohol aus?«
Don José winkt ab. »Nicht mehr. Mit einhundertsechs habe ich aufgehört. Nur manchmal gönne ich mir noch einen ›Puro‹, aus
alter Gewohnheit. Aber nie mehr als einen pro Tag.«
Ich blicke fragend zu Lenin hinüber. Er klärt mich auf: »Puro« ist ein Schnaps, vergleichbar mit Rum. Er wird aus Zuckerrohrabfällen
hergestellt, eine hochprozentige Spirituose, deren Genuss die Leber vor enorme Herausforderungen stellt.
|50| Während ich José Medina zuhöre, spuken die Erklärungen in meinem Kopf, warum es in Vilcabamba so viele Hundertjährige gibt:
die natürliche Umgebung, das gesunde Essen, die saubere Luft, das reine Wasser. In diesem heiligen Tal scheint es der Natur
gelungen zu sein, sich der Zerstörungsmacht des Menschen zu entziehen. Und weil sich alle anständig benehmen, belohnt die
Natur die Einwohner mit guter Gesundheit und einem Extrabonus von vierzig Jahren mehr Leben. So die übliche Erklärung.
Doch wie ich feststelle, ist es kein Geheimnis, dass in Vilcabamba Alkohol, Tabak und Drogen konsumiert werden. Dennoch halten
die Gesundheitsapostel weiterhin die Flagge der Reinheit hoch. Es passt den Tugendfanatikern offenbar nicht in den Kram, dass
die Menschen in Vilcabamba älter werden und körperlich in einer besseren Verfassung sind als andere, die keinem Laster frönen.
Was sie voller Überzeugung predigen, wird in diesem Tal Lügen gestraft. Deshalb kehren sie den Genuss von Alkohol, Tabak und
Drogen unter den Teppich.
Dabei ist es doch kein Drama, wenn man für sich selbst entschieden hat, sich von Biokost zu ernähren, Sonneneinstrahlung zu
meiden, auf Drogen zu verzichten, Sport zu treiben, früh ins Bett zu gehen |51| und Yoga zu machen, und dann eines schönen Tages auf einen Trupp Hundertjähriger trifft, die munter zechend und rauchend um
einen Tisch versammelt sitzen. In Vilcabamba sind die Bedingungen eben andere. Geht es hier um Moral? Lieber sollte man sich
fragen, wie es sich erklären lässt, dass die gesundheitlichen Präventivmaßnahmen hier offensichtlich keine Rolle spielen.
Don José ist gewissermaßen der verzogene Sohn der Natur: Er darf alles und wird für nichts gerügt. Er ist einhundertzwölf
Jahre alt, hat kaum graues Haar, Augen wie ein Luchs und ist noch in der Lage, körperlich zu arbeiten. Na gut: Er hört ein
wenig schlecht.
Gesundheit ist nicht gleich Leben. Das wird einem schnell klar, wenn man ständig darauf konzentriert ist, genug Wasser zu
trinken, gesund zu essen und Sport zu treiben. Würden wir jeden medizinischen Rat befolgen, bliebe uns kaum Zeit für etwas
anderes. Ein Großteil unserer Zeit würde für Gesundheitschecks und Vorsorgeuntersuchungen, Ultraschall, EKGs, Darmspiegelungen,
Sehtests, Blutuntersuchungen, Belastungstests, Knochendichtemessungen und Besuche beim Zahnarzt, Kinesiologen und Ernährungsberater
draufgehen. Und das allein zur Prävention. Im Krankheitsfall wird es noch komplizierter.
|52| Wenn wir uns nicht auf den Körper reduzieren und das Wartezimmer nicht zu unserem zweiten Wohnzimmer machen wollen, müssen
wir uns entscheiden; müssen entscheiden, welche Untersuchungen wir für wichtig halten, und müssen auf uns achten, ohne dabei
gleich in Wahn zu verfallen.
Es ist schwer, die guten Ratschläge für ein langes Leben beiseitezuschieben. All das Wissen um die Gesundheit gibt einem zwar
nicht unbedingt ein besseres Gefühl, aber die Angst vor Krankheit und Tod hält einen auf Trab. Ging es früher darum, das Leben
zu genießen oder etwas zu erreichen, koste es, was es wolle, geht es heute darum, das Leben um jeden Preis zu verlängern.
Und wäre ein gesundes Leben immer schon das einzig erstrebenswerte Ziel gewesen, könnte die Menschheit jetzt nicht auf eine
Geschichte zurückblicken, oder höchstens auf eine ziemlich ereignislose.
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»Da unten.«
Lenin kennt den Weg, Víctor folgt ihm. Ich bilde mit meiner Kameraausrüstung die Nachhut. Wir steigen den Berg hinunter und
gelangen an das Ufer eines Flusses, des Rio Chamba. Dort wird
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