Das Tal der Hundertjährigen
Menschheit mit doppelt so vielen Werken
erfreut.
Betrachtet man die Antike, eine Zeit, in der die Medizin noch in den Kinderschuhen steckte, stellt man fest, dass Philosophen
und Wissenschaftler in der Regel älter wurden als Künstler, Feldherrn und Politiker, häufig sogar ein gesegnetes Alter erreichten.
Sokrates war siebzig, als man ihn zwang, den Schierlingsbecher zu leeren, Platon erreichte das achtzigste Lebensjahr, Pythagoras
starb mit knapp fünfundsiebzig und Parmenides mit siebzig, Konfuzius wurde immerhin zweiundsiebzig. Ich weiß nicht, ob der
rege Gebrauch des Verstandes das |13| Leben verlängert, aber um eine Idee reifen zu lassen und sie mit Argumenten zu untermauern, sind vierzig zusätzliche Jahre
sicherlich eine gute Sache.
Es kann ebenso gut anders kommen, trotz vierzig gewonnener Jahre: etwa, dass der Körper seine Dienste versagt, oder der Geist.
Oder die Seele, wenn ein Mensch sich in dem Umfeld, in dem er lebt, nicht mehr zurechtfindet. Dann ist es nur noch eines,
das zum Weitermachen antreibt: die Angst zu sterben.
Man behauptet gern: Wer mehr hat, lebt länger. Doch die Kaufkraft allein ist keine Garantie für ein würdiges Alter. Machen
wir uns nichts vor: Am Ende leben wir nicht mehr nur selbstbestimmt, sondern sind im Wesentlichen Körper; Körper, die in den
letzten Lebensjahren häufig mehr leiden denn genießen.
Meine große Hoffnung ist, dass medizinischer Fortschritt in Zukunft auch bedeutet, dass das Alter für mehr Menschen nicht
länger ein unwürdiges Dahinsiechen ist.
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Ich trete ein, ohne anzuklopfen. Sofort erhebt sich die Pflegerin im weißen Kittel von ihrem Sessel und begrüßt mich – in
ihrer ganzen Art eine resolute Person. Als sie sich zu meinem Vater hinunterbeugt, brüllt sie beinahe.
»Schauen Sie mal, wer da ist.«
Seit mein Vater vor knapp einer Woche ins Krankenhaus eingeliefert wurde, besuche ich ihn zwei Mal am Tag. Die Pflegerin,
die heute den Dienst übernommen hat, kenne ich noch nicht. Und doch kommt es mir so vor, als herrschte zwischen meinem Vater
und ihr ein Grad an Vertrautheit, den ich als Sohn bisher nicht erreicht habe … Aber das ist wohl auch nicht weiter verwunderlich,
schließlich hat sie die ganze Nacht an seinem Bett gewacht, ihm das Essen gereicht, dafür gesorgt, dass er bequem liegt, jederzeit
bereit, den Arzt zu rufen.
»Er hat ständig nach Ihnen gefragt. Ich habe gesagt, Sie würden bestimmt gleich kommen.«
|15| »Er fragt immer nach mir, wenn er im Krankenhaus liegt.«
Ich trete an das Krankenbett meines Vaters, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu geben. Dabei bemerke ich voller Entsetzen,
dass man ihn ans Bett gefesselt hat. Ärgerlich verlange ich eine Erklärung: Wieso bindet man ihn einfach fest, ohne meine
Zustimmung einzuholen?
»Er wollte sich die Sonde herausreißen … Wir konnten ihn nicht mehr bändigen.« Die Schwester sagt das ganz nüchtern, als wäre
ich nicht ein Angehöriger, sondern ein Journalist, der schon immer mal etwas über ihre Arbeit wissen wollte.
Ich spreche meinen Vater an: »Und, Papa, alles in Ordnung?«
Er holt tief Luft, nickt und flüstert mir unter größter Anstrengung zu, es ginge ihm gut.
»Schön. Das freut mich sehr.«
Ich spüre, dass die Pflegerin mich beobachtet. Sie steht mir gegenüber, mit verschränkten Armen, an der anderen Seite des
Metallgitters, das um das Bett verläuft und verhindern soll, dass mein Vater hinausfällt. Ich blicke auf. Die Dame muss um
die fünfzig sein, sie ist etwas mollig, wirkt jedoch jugendlich frisch dabei. Eine durchaus attraktive Frau.
Ich schaue zu meinem Vater, in seinem Zustand |16| ist er verständlicherweise wenig empfänglich für weibliche Reize. Er wirkt sehr erschöpft, und ich frage mich, ob er, gefesselt
wie er daliegt, gut schlafen konnte. Insofern beruhigt es mich ein wenig, dass die Pflegerin nicht den Eindruck macht, als
habe sie eine schlaflose Nacht hinter sich. In einer Stunde kommt ihre Ablösung, dann kann sie nach Hause gehen, sich ausruhen.
Bis zur nächsten Schicht.
Ich stelle mir kurz vor, ich müsste ihre Arbeit machen. Ich könnte es nicht, ich wäre völlig überfordert. Natürlich übernehmen
Menschen wie diese Frau Nachtwachen, weil sie das Geld brauchen. Doch wie dankbar sollten wir sein, dass es Menschen gibt,
die ihren Unterhalt damit bestreiten wollen, dass sie anderen Aufmerksamkeit und Zuwendung schenken! Sicher hat die Pflegerin
meines
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