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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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Tage nicht mehr erhob, sich kaum mehr bewegte, die Kammer nicht mehr verließ und damit die aufsässige Neugierde der Hausherren der Herberge auf sich lenkte, die abzuwehren ihm zunehmend schwerer fiel. Das Klopfen und die Nachfragen an der Kammertür trieben ihn immer weiter in die Verzweiflung, in das unstillbare Begehren der Wiedergutmachung, in den wahnhaften Zwang, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und in die von ihm bestimmten Bahnen zu lenken.
    Also ließ er bei Nacht und Nebel einen Wagen anspannen, lud die Kiste und seine wenigen Habseligkeiten auf und fuhr mit diesem traurigen Leichenzug aus der Stadt
hinaus aufs Land Richtung Süden, ohne zu wissen, wo er Ana de la Tour hinbringen sollte. Mehrere Wochen lang fuhr Jean-Louis mit dem Sarg seiner Geliebten kreuz und quer durch ganz Frankreich, ziellos, von Norden nach Süden, von Osten nach Westen und zurück, vom Händler Néandaz und von wahnsinnigen Ordensbrüdern verfolgt, orientierungslos bis zur Erschöpfung, bis zur physischen und geistigen Erlahmung, bis zur Aufgabe jeglicher Hoffnung auf Erlösung aus dem Kerker seines Schicksals. Er starrte auf die Holztruhe und wusste nicht einmal mehr, weshalb er diese makabre Reminiszenz an seine einstige Geliebte noch mit sich führte, denn es änderte nichts am Leid, das ihr zugefügt worden war, es änderte nichts an allem, was geschehen war. Die Gegenwart ihres toten, auf die Knochen reduzierten Körpers in der Truhe wurde ihm, obwohl er den Deckel noch gar nicht angehoben hatte, zunehmend unerträglich und zwang ihn schließlich, mehr noch als seine Verfolger, die ihm inzwischen gefährlich nahe gekommen waren, den Blick aus der Vergangenheit zu lösen und nach vorn zu richten.
    Die unwürdige Verfassung zu beenden, in welche die teuflischen Alchemisten und mystischen Pfuscher Ana de la Tour gebracht hatten, war schließlich das Einzige und Letzte, was noch in Jean-Louis’ Macht stand. Indem er nach Wochen der wirren Verzweiflung und der vielen Nächte der inneren Selbstzerstörung den Deckel der Truhe endlich anhob, brach er das Schweigen gegenüber sich selbst und die Macht des Schicksals über seine eigene innere Verfassung. Indem er nun nach den trockenen, weißen Gebeinen griff, nahm er die Bestimmung und die Entscheidung über den Lauf der Dinge wieder selbst in die
Hand. Indem er jetzt die sterblichen Überreste von Ana aus der Truhe hob, wurde er selbst zur Unruh ihres gemeinsamen Schicksals, zum Antrieb des Räderwerks ihrer Geschichte, deren fürchterlichen Auswüchsen Jean-Louis nun endlich ein Ende setzen konnte.

5
    In einem kleinen jurassischen Dorf am Ufer des Doubs, nicht weit von seinem Geburtsort Le Locle und gut versteckt zwischen Tannen und Hügeln, bezog Jean-Louis schließlich eine kleine Dachkammer in einer Herberge, trug die Holztruhe und seine Habseligkeiten in das Zimmer hinauf und holte dort aus seiner Tasche ein altes Bündel, welches er sein Leben lang nicht aus der Hand gegeben hatte, sein letztes Hab und Gut, die Werkzeuge, die der Uhrmacher und Erfinder Pierre Jaquet-Droz ihm in La Chaux-de-Fonds zu seinem zehnten Geburtstag geschenkt hatte. Nun rollte er die Werkzeuge auf dem Tisch aus, legte sie alle ordentlich eines neben das andere, die Pinzetten, Zangen, Schraubendreher und Stiftenkloben, das Okular, das Messer und die Feilen. Mit diesen paar Werkzeugen und einigen wenigen Materialien, die er sich auf dem Weg hierher mit dem letzten Rest Geld bei zweitklassigen Uhrmachern und Bijoutiers besorgt hatte, begann er nun ein Werk zu schaffen, das in sich nicht nur die Kraft der äußersten Verzweiflung vereinigte, die Jean-Louis zu seiner Tat antrieb, sondern auch das Genie und die Schönheit des größten und komplexesten Schachspielers seiner Zeit. In wenigen Tagen verbaute Jean-Louis all die Reliquien seiner Geliebten in eine über einen Meter hohe, weiße Spieluhr, deren Pracht sich nicht nur durch die Ausarbeitung
der vielen an Pflanzen und wallenden Stoffen nachempfundenen Verzierungen, sondern auch durch die multiplen, hochkomplizierten Spiele auszeichnete. Der aus unzähligen Porzellanteilen zusammengebaute äußere Kasten zeigte neben den geschwungenen Verzierungen eine in weißes Porzellan gebrannte Schachdame auf der Spitze. Darunter folgte, geschützt durch mehrere bewegliche Säulen, ein alle sechs Stunden wie aus dem Nichts erscheinendes Zimbal, welches Jean-Louis über eine Stiftwalze in die Spieluhr einbaute, so wie er das Saiteninstrument damals in

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