Historical Saison Band 15
1. KAPITEL
London, April 1809
A rabella Marlbrook wanderte durch den großen, geschmackvoll eingerichteten Salon in Mrs Silvers „Haus der bunten Freuden“, das im Londoner St. James’s District lag. Verzweifelt versuchte sie ihre Angst zu überwinden.
Ihr hauchzartes schwarzes Seidenkleid war eigentlich für eine schlankere Frau geschneidert und schmiegte sich deshalb geradezu unanständig an ihre Brüste und Hüften. Dass sie weder ein Korselett noch Unterröcke trug, bereitete ihr zusätzliches Unbehagen. Obwohl sie fröstelte, fühlten sich ihre Handflächen feucht an. Außerdem fürchtete sie, dass die schwarze Federmaske, die sie trug, ihre Identität nicht gut genug zu verbergen mochte.
Fünf andere Frauen warteten verführerisch postiert im Salon, jede in eine andere Farbe gehüllt und alle in Gewändern, die sie selbst viel zu vornehm erscheinen ließen.
„Setz dich, Arabella“, forderte Alice – Miss Rouge – sie seufzend auf. Entspannt streckte sie sich auf einer der Chaiselongues aus und präsentierte ihre scharlachroten Dessous mit den passenden Strümpfen. „Wenn du dauernd herumläufst, machst du mich ganz schwindlig. Spar dir deine Kräfte lieber für heute Nacht. Dann werden viele unternehmungslustige Gentlemen zu uns kommen. Und einige von ihnen sind ziemlich anspruchsvoll, um es milde auszudrücken.“ Sie lächelte anzüglich, und ihre Augen hinter der roten Federmaske schimmerten fast schwarz.
„Lass sie in Ruhe, Alice, und denk dran, wie du dich in deiner ersten Nacht gefühlt hast“, mahnte Miss Rose. „Natürlich flattern ihre Nerven.“ In zarte rosafarbene Seide gehüllt, lehnte sie am Kaminsims, flackernde Flammen beleuchteten ihre Beine durch den dünnen Stoff und erweckten den Eindruck, sie würde gar keinen Rock tragen. Sie schaute zu Arabella hinüber. „Mach dir keine Sorgen, Mädchen, das wirst du schon schaffen.“
Arabella warf ihr einen dankbaren Blick zu, bevor sie Miss Rouge ersuchte: „Bitte, sprechen Sie mich nicht mit meinem richtigen Namen an. Ich dachte, wir benutzen die Namen, die Mrs Silver uns gegeben hat.“ Keinesfalls sollte der Mann, mit dem sie die Nacht verbringen würde – allein schon bei dem Gedanken daran drehte sich ihr der Magen um – ihre wahre Identität erfahren. Nicht einmal der Hauch einer Schande durfte auf die Menschen zurückfallen, die sie liebte.
„Das ist nur ein Name, Miss Noir“, zischte Miss Rouge. „Stell dich nicht so an!“
„Morgen früh wird sie ganz genau wissen, wie sie sich hier anstellen muss“, kicherte eine blau gekleidete kleine Blondine, die in einem Sessel saß.
Um ihre Schamröte zu verbergen, schritt Arabella zum Bücherregal, gab vor, die Titel der Romane zu lesen, und rang nach Fassung. Als ihre Miene die erlittene Demütigung nicht mehr bekundete, wandte sie sich wieder den Frauen zu.
Alice, Miss Rouge, polierte ihre Fingernägel. Gähnend schloss Ellen, Miss Vert, die Augen und machte es sich auf ihrer Chaiselongue gemütlich. Lizzie, Miss Bleu, und Louisa, Miss Jaune, unterhielten sich leise. Und Tilly, Miss Rose, las einen Liebesroman.
Arabella versuchte sich von der Tortur abzulenken, die ihr bevorstand, und betrachtete das Dekor des Salons – ein schöner Raum, vielleicht einer der schönsten, die sie je gesehen hatte. Auf dem Parkett aus blankem Eichenholz lag ein golden, blau und elfenbeinfarben gemusterter türkischer Teppich. Die hellblauen Wände verliehen dem Raum eine friedliche Atmosphäre. Von der Mitte der Stuckdecke hing ein großer Kristalllüster und funkelte ebenso wie die passenden Wandleuchter im Kerzenlicht.
Die meisten der Möbel bestanden aus Eichenholz, die Sessel und Sofas waren mit hellblau und elfenbeinfarben gestreiften oder goldgelben Stoffen bezogen. Auf einem kleinen Ecktisch befanden sich duftende gelbe und weiße Frühlingsblumen in einer edlen Vase.
Einen solchen Salon erwartete man eher in dem Wohnhaus einer respektablen, vornehmen Londoner Familie. Arabella staunte über den Kontrast zwischen der gediegenen Einrichtung und den vulgären Aktivitäten, die in diesen Mauern stattfanden.
Um Himmels willen, worauf habe ich mich eingelassen?
Ihr graute vor dem Moment, wo ein Gentleman eintreffen und ihre „Dienste“ kaufen würde. Immer wieder musste sie den Impuls bekämpfen, einfach davonzulaufen und nach Hause zu flüchten. Doch das durfte sie nicht tun. Nur zu gut wusste sie, warum sie hier war – warum sie die Demütigung ertragen musste.
Die
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