Das Tibetprojekt
intuitiv, dass sein Job mit dieser Meldung zu tun haben
musste. Decker ging näher an den Bildschirm und machte den Ton lauter, um kein Wort zu überhören.
»... im Rahmen der mehrtägigen Gespräche wurden bereits in der ersten Verhandlungsrunde umfangreiche Verträge zwischen Vertretern
der deutschen und der chinesischen Industrie geschlossen. Die Produktion von Volkswagen und der Ausbau des Transrapid in Schanghai
wurden als Beispiele genannt, ebenso wie der Bau des Airbus A 320 in Tianjin. Der volle Umfang der Abkommen ist nicht bekannt.
Die Chinesen begrüßten dabei die überaus kooperative Haltung der Deutschen. Zu heftiger |392| Kritik aus seiner eigenen Partei, der Grünen, hat der Umstand geführt, dass der Bundeskanzler nicht wie angekündigt die Tibetfrage
zur Sprache gebracht hat. Über die Gründe dafür sind sich die Experten noch nicht schlüssig ...«
Decker schaltete den Ton ab. Mehr brauchte er nicht zu wissen. Sprachlos hatte er die Worte vernommen. In seinem Kopf tobten
Einsichten und Erkenntnisse.
Es ging um Investitionen. Um Handelsbeziehungen der Zukunft. Um die strategische Zusammenarbeit zwischen Europa und China.
Angesichts dieser Dimensionen blies Decker die Luft in einem halben Pfiff aus sich heraus und blickte zu seinen Büchern. Geschichte,
Kultur und Religion waren nicht das primäre Ziel.
Es ging um Milliarden. Es ging um Chinas Ansehen in der Welt. Es ging um die Zukunft einer Supermacht. Nur am Rande ging es
auch um die Bedrohung durch irrationale, gefährliche Mächte, die in den Köpfen der Menschen herumspukten.
Decker nahm einen großen Schluck aus seinem Glas und fügte das Puzzle zusammen. Bei diesem Spiel hing alles miteinander zusammen,
politisch und wirtschaftlich. Die Chinesen hatten der deutschen Delegation offenbar gezeigt, was da oben im Potala Palast
lauerte. Und wer der Dalai Lama wirklich war.
Mit seinem Dossier.
Daher der Zeitdruck.
Daher auch die unbegrenzten Mittel.
Und der Kapitalist im Hintergrund.
Jetzt verstand er.
|393| Ehrfurchtsvoll und zugleich auch geschockt über die Erkenntnis und seine Rolle dabei blickte Decker auf den Monitor. Er hatte
den Ton immer noch abgestellt und sah nur die Gesichter der Experten, die nun nacheinander zugeschaltet wurden und sich in
Spekulationen über die Hintergründe der überraschenden Wendung ergingen.
Wenn die wüssten
...
China hatte die Gunst des Augenblicks abgewartet und genau abgepasst. Der Plan war genial. Und die Grüne Partei war der ideale
Angriffspunkt für die Chinesen.
Vor langer Zeit in Frankfurt als wilder Haufen gegründet, hatten die Grünen China mehr als alle anderen angegriffen und mit
dem Dalai Lama zusammen gegen Peking gehetzt. Das konnten sie auch, denn jahrzehntelang waren sie ja nur in der Opposition.
Sie hatten nichts zu entscheiden.
Aber dann geschah das Undenkbare. Zum ersten Mal in der Geschichte kam mit den Grünen eine Umweltpartei an die Regierung.
Peking aber hatte die Angriffe nicht vergessen – und die Chance zum vernichtenden Gegenschlag gewittert, als der tote Professor
Weinberg gefunden wurde. Jetzt hatten sie etwas in der Hand, um den Deutschen endlich zu zeigen, mit wem sie sich da eingelassen
hatten.
Es war schon eine Ironie der Geschichte, dass der deutsche Kanzler auch noch der Parteichef der Grünen war, und seine Wirtschaftsministerin
sowie der Außenminister zu den engsten Freunden des Dalai Lama gehörten.
In der Haut der beiden Minister möchte ich nicht gesteckt haben, als die Schlacht heute Morgen begann. Der chinesische Präsident
hat die Deutschen vermutlich in Grund und Boden gestampft.
|394| Die Stimmen der heftigsten Kritiker waren damit fürs Erste verstummt, und die Chinapolitik Europas kehrte zurück zur Vernunft.
Was für ein Coup!
Und die Deutschen, insbesondere der Kanzler und seine Partei, dürften allen Grund haben, die Sache nicht öffentlich werden
zu lassen.
Die Delegation aus Berlin ist wahrscheinlich vor Scham im Boden versunken.
Die deutsche Wirtschaft und den Steuerzahler würde die dilettantische Einmischungspolitik der Regierung wahrscheinlich noch
teuer zu stehen kommen. Aber das sollte ihn, Decker, nicht kümmern. Er hatte sein Bestes getan.
Er blickte auf die vielen Bücher und Notizblöcke. Die Worte des chinesischen Generals über Sun Tzu fielen ihm wieder ein:
Kämpfen und erobern in allen Kriegen ist nicht höchste Brillanz. Höchste Brillanz besteht
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