Das Tibetprojekt
morden, sieben Jahrzehnte nach dem Ende des »Führers«?
Aus der endlosen Reihe der Erinnerungen kamen Worte des chinesischen Generals und drängten sich von irgendwoher in den Vordergrund:
Sie fanden den verstorbenen Dalai Lama im Enkel des Altan Khan wieder.
Was steckte in diesem Satz?
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Übertragung.
Die Wiederkehr des Verdrängten.
Er blätterte in den Geschichtsbüchern, scrollte endlose Texte über die Monitore, sah die Bilder an.
Wagner.
Hitler.
Dalai Lama.
Sie waren sich nie begegnet. Was war diesen Männern gemeinsam? Die Antwort konnte nur im Geist liegen. Aber wo?
Plötzlich kam Decker ein völlig absurder Gedanke. Wagners Werke waren bekannt und tausendmal interpretiert worden. Jeder wusste,
dass er fest in der abendländischen Kultur und im christlichen Denken ruhte. Und wenn, nur mal angenommen, genau hier der
Denkfehler lag? Sollten Hitler und Wagner mehr als nur ihren Antisemitismus und ihre Liebe zu Parzival gemeinsam haben?
Decker wühlte in seinen Büchern. Im schummrigen Licht der gedämpften Lampen und Monitore suchte er nach einer Spur. Und fand
sie dann mehr durch Zufall in den Tagebüchern von Cosima Wagner. Ihr Ehemann Richard habe bestimmte Bücher über Buddha gehabt,
las er. Sie hätten oft darüber gesprochen.
Aber was hieß das denn wirklich? Dass Richard Wagner sich intensiv mit dem Buddhismus befasst hatte!
Decker schlug in seinen Lexika nach und googelte »Wagner/Buddhismus«. Er wurde sofort fündig. 1856 hatte Wagner ein Musikdrama
mit dem Titel »Der Sieger« entworfen. Es wurde nie auf die Bühne gebracht, aber es handelte eindeutig von Buddha. Auch Wagners |409| »Lohengrin« und sogar »Parsifal« waren vom Buddhismus durchdrungen und ohne ihn nicht zu verstehen.
Decker war fassungslos. Dann rasten seine Gedanken. Nahmen Gestalt an. Es war schrecklich schön. Und es passte.
Richard Wagner.
Adolf Hitler.
Der Dalai Lama.
Alle drei hatten etwas gemeinsam, und das führte zum letzten Geheimnis der Nazis.
Wie um es sich selbst zu erklären oder eine intuitiv gefundene mathematische Gleichung nochmals durchzurechnen, ging er die
einzelnen Schritte im Geiste langsam durch.
Die Apotheose, die Gottwerdung Hitlers. Hitler als Wotans Inkarnation. Die Schaffung einer neuen Religion und die Verdrängung
des Christentums. Bis dahin war Decker gekommen.
Den nächsten Schritt hatte er nicht gemacht. Weil er dachte, Wagner sei Christ. Das war der Fehler in seinem System. Er sah
wieder auf das Buch mit Cosimas Briefen und das Lexikon. Es gab keinen Zweifel. Er hatte es nicht gewusst.
Wagner war in Wirklichkeit Buddhist.
Decker legte das Lexikon aus der Hand, schüttelte den Kopf und fühlte sich dem Wahnsinn nahe. Er hätte hysterisch lachen können.
Richard Wagner war Buddhist!
Wie Hitler.
Und der Dalai Lama.
|410| Decker konnte es einfach nicht fassen, dass er das übersehen hatte.
Aber das Interesse Wagners an Buddha war nicht das eigentlich Entscheidende. Etwas anderes ließ ihn erschaudern. Viel wichtiger
war, dass Tristan oder der Fliegende Holländer noch einen anderen, untrennbar mit dem Buddhismus verbundenen Glauben enthüllten:
die Seelenwanderung.
Da lag das Unvorstellbare verborgen. Wenn Hitler vielleicht auch nicht die gesamte Philosophie des Buddhismus durchdrungen
hatte. Diesen einen Gedanken hatte er sicher verstanden:
die Wiederkehr.
Die Dalai Lamas und Hitler hatten etwas gemeinsam. Sie waren Herrscher über gewaltige Reiche. Aber sie hatten auch ein Problem:
Der tibetische Gottkönig lebte im Zölibat. Hitler hatte Syphilis. Kinder konnten beide nicht haben.
Beide mussten aber irgendwann die Macht übergeben.
Und sie wollten das selbst steuern.
Das war es, was Decker die ganze Zeit nicht sehen wollte oder nicht konnte. Das war der letzte Grund, warum Hitler sich für
den tibetischen Buddhismus interessierte. Es war das einzige System der Welt, das sein Problem lösen konnte.
Hitler brauchte eine Regelung für seine Nachfolge.
Er hätte natürlich einfach, wie ja auch anfangs geplant, per Erlass Göring, Hess oder Himmler zu seinem Thronfolger machen
können. Aber Deutschland, die Wehrmacht und die SS waren auf ihn, den Führer, eingeschworen |411| . Er war die Lichtgestalt und die Leitfigur. An ihn glaubten alle und für ihn starben sie. Nur er war der charismatische Herrscher,
dem alle ergeben waren.
Dieses Charisma, seinen Geist, musste Hitler dem Nachfolger
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