Das Tier
frische Luft, dem Wind in den Haaren und ohne ein freundliches Gesicht. Und warum? Weil sie sich nicht trauen, mich hinzurichten.“
Thars spürte regelrecht, wie sich der Junge bei seinen Worten verkrampfte. Verdammt! Er hätte nicht anfangen sollen, über seine Hinrichtung zu reden.
„Hab keine Furcht, Cyrian. Dir droht von mir keine Gefahr. Rück ein Stück näher, mein Süßer, und lass mich ein wenig an deiner Unschuld teilhaben.“
Cyrian lachte verbittert auf. „Unschuldig bin ich wohl kaum.“
„Du hast eine reine Seele. Das ist selten“, flüsterte Thars. Der Junge schwieg dazu, schien sich jedoch ein Herz zu fassen und näherte sich tatsächlich etwas an. Erst in diesem Moment wagte Thars, sein Handgelenk freizugeben. Unbeschreiblich, wie sehr er die Nähe dieses Jungen genoss.
„Wie … wie kann ich Ihnen zu Diensten sein, Herr?“, wollte Cyrian zaghaft wissen. Nun bot sich ihm dieses Unschuldslamm auch noch an. Thars schüttelte den Kopf. Zottiges Haar fiel ihm dabei ins Gesicht, er strich es ärgerlich fort. Vor sieben Monaten war er ein gepflegter Mann gewesen. Heute begeisterte er sich an einem Stück schimmligen Brotes. Es war schon erstaunlich wie sich Prioritäten verschieben konnten.
„Du bist nicht hier, um mich zu erfreuen, Cyrian. Oder magst du von einem ungewaschenen, stinkenden und verlausten Kerl bestiegen werden? Bah! Ich kann selbst riechen, was für Dreck an mir klebt.“
„Weswegen haben sie mich denn dann geholt?“
„Es hat mal eine Zeit gegeben, in der ich in aller Bequemlichkeit gelebt habe. In der mir Schönheiten, wie du eine bist, hinterhergelaufen sind. Sorgenfreie Tage …“ Thars verstummte, würgte an der Bitterkeit, die in ihm aufstieg und versuchte, nicht an seinem Hass zu ersticken. Hass gegenüber denjenigen, die ihn hier wie ein wildes Tier eingesperrt hatten. Er schnaubte wütend. Wahrlich! Zu einem Tier hatten sie ihn gemacht.
„Sie wollen mich mit der Erinnerung an diese Zeiten quälen. Deswegen bist du hier, Süßer.“ Er streckte die Hand aus und ließ sie über Cyrians weiche Haut gleiten. Der Junge zuckte zusammen und sein Atem beschleunigte sich. Er hatte noch immer Angst, war aber zumindest nicht mehr panisch.
„Kannst du singen, Cyrian?“, fragte er leise. „Ich würde dich gern singen hören. Du hast eine angenehme, warme Stimme. Bestimmt singst du wie ein Himmelsgeschöpf.“
„Singen? Oh nein, Herr, das wollen Sie nicht wirklich. Ich kenne keine anständigen Lieder.“
Thars’ Finger streichelten über eine bloße Schulter des Jungen.
Gesellschaft, dachte er wehmütig, ist doch ein kostbares Gut.
„Du kannst ruhig Gossenlieder singen, Süßer. Ich bin nicht zimperlich. Hauptsache, ich darf deine Stimme hören. Sing für mich.“
Cyrians Hals fühlte sich wund an. Stundenlang hatte er gesungen. Immer wieder dieselben schlüpfrigen Lieder, bis seine Stimme versagt hatte und er erschöpft gegen die Wand gesunken war. Das Tier hatte ihn nicht einmal unterbrochen und sich nicht weiter gerührt. Ihm schien es beinahe, als hätte er es mit seinem Gesang gezähmt. Tiefe, gleichmäßige Atemzüge sagten ihm nun, dass der Mörder neben ihm eingeschlafen war. Vorsichtig kroch er von ihm fort und an das andere Ende der winzigen Zelle. Dieses Mal zog er die Beine an. Nicht noch einmal wollte er am Fuß gepackt werden. Der Schreck darüber saß ihm noch in allen Knochen. Und womöglich wollte das Tier nach dem Aufwachen doch noch seinen Tod.
Es hat geweint , fuhr es ihm durch den Sinn. Es hat geweint, als ich gesungen habe. Und es hält mich für unschuldig. Beinahe hätte er laut herausgelacht. Was für ein Unsinn! Dabei hatte er jede heruntergelassene Hose genutzt, um mit dem Münzbeutel eines durchreisenden Freiers zu verschwinden. Er hatte ein Messer gebraucht, um andere Liebesdiener so lange zu bedrohen, bis er einen der besten Plätze in der Rotenbachstraße ergattert hatte. Um in dieser Straße anschaffen zu können, hatte er sich mühselig eine gepflegtere Sprache angewöhnen müssen. Mit dem Gossenslang, der in seinem Heimatviertel gesprochen wurde, wäre er schnell wieder verjagt worden. Und er war sich für keinen Dienst zu schade gewesen, solange er klingende Münzen dafür erhalten hatte. Geld … um nichts anderes ging es ihm. Ohne diese winzigen runden Metallscheiben war man ein Nichts, ein Niemand. Sie allein bestimmten sein Leben. Was sollte denn aus ihm werden, wenn er älter und nicht mehr begehrt wurde? Oder wenn ihn
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