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Das Tor Zur Hölle

Das Tor Zur Hölle

Titel: Das Tor Zur Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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musterte, trotz der verwesten Hautfetzen, in denen es verwurzelt war, jeden Zentimeter von ihr, vom Kopf bis zu den Zehen.
    Sie verspürte keine Angst in seiner Gegenwart. Das Ding war weit schwächer als sie. Es bewegte sich ein wenig in seiner Zelle, suchte nach irgendeinem Funken Trost. Doch es war keiner zu finden; nicht für eine Kreatur, die ihre zerfetzten Nerven offen und blutend zur Schau trug. Jede Stellung, in die es seinen fragmentarisehen Körper bewegte, brachte Schmerz — das erkannte sie ganz deutlich. Sie hatte Mitleid mit ihm. Und mit dem Mitleid kam die Erlösung aus der Erstarrung. Ihr Körper stieß die tote Luft aus und sog lebende ein, ihr nach Sarstoff hungerndes Gehirn funktionierte benommen.
    Und noch während das geschah, sprach das Ding, öffnete sich ein Loch in der gehäuteten Kugel, die den Kopf des Monstrums bildete, und ein einzelnes, schwereloses Wort drang daraus hervor.
    Das Wort war:
    »Julia.«
    Kirsty stellte ihr Glas ab und versuchte aufzustehen.
    »Wo gehst du hin?« frage Neville.
    »Wohin wohl?« erwiderte sie, wobei sie sich anstrengte, nicht allzu sehr zu lallen.
    »Brauchst du irgendwelche Hilfe?« erkundigte sich Rory. Der Alkohol machte seine Augenlider träge und sein Grinsen sogar noch träger.
    »Ich bin stubenrein«, erwiderte sie. Die gut gekonterte Erwiderung wurde mit allgemeinem Gelächter aufgenommen. Sie war mit sich zufrieden; Schlagfertigkeit war sonst nicht ihre Stärke. Unbeholfen stolperte sie zur Tür.
    »Es ist die letzte Tür rechts am Ende des oberen Flurs«, informierte sie Rory.
    »Ich weiß«, sagte sie und verließ das Zimmer.
    Gewöhnlich schätzte sie das Gefühl der Betrunkenheit nicht sonderlich, doch heute Nacht genoß sie es richtig.
    Sie fühlte sich leichtfüßig und sorglos. Morgen mochte sie es vielleicht bereuen, aber was kümmerte sie schon das Morgen. Heute Nacht schwebte sie im Siebten Himmel.
    Sie tastete sich zum Badezimmer und erleichterte ihre schmerzende Blase, dann spritzte sie sich etwas Wasser ins Gesicht. Nachdem das vollbracht war, machte sie sich auf den Rückweg.
    Drei Schritte hatte sie den Flur entlang gemacht, als sie bemerkte, daß jemand das Flurlicht ausgeschaltet hatte, während sie im Badezimmer gewesen war, und daß eben dieser jemand nun ein paar Meter vor ihr stand. Sie verharrte.
    »Hallo …?« sagte sie. War ihr der Katzenzüchter hier herauf gefolgt, in der Hoffnung zu beweisen, daß er nicht kastriert war?
    »Bist du das?« fragte sie, wobei sie sich vage bewußt wurde, daß dies eine höchst sinnlose Frage war.
    Es kam keine Antwort, und ihr wurde ein wenig unwohl.
    »Komm schon«, sagte sie und versuchte dabei, scherzhaft zu klingen, was, wie sie hoffte, ihre Furcht verbergen würde. »Wer ist da?«
    »Ich«, sagte Julia. Ihre Stimme klang merkwürdig.
    Kehlig; vielleicht auch tränenerstickt.
    »Bist du okay?« fragte Kirsty. Sie wünschte, sie könnte Julias Gesicht sehen.
    »Ja«, kam die Antwort. »Warum sollte ich es nicht sein?« In der Zeitspanne dieser sieben Worte hatte die Schauspielerin in Julia die Kontrolle übernommen. Die Stimme klärte sich; der Ton wurde freundlicher.
    »Ich bin nur müde …«, fuhr sie fort. »Hört sich so an, als würdet ihr euch da unten prächtig amüsieren.«
    »Halten wir dich wach?«
    »Großer Gott, nein«, beeilte sich die Stimme zu sagen, »ich war gerade auf dem Weg zur Toilette.« Pause, dann:
    »Geh wieder runter. Viel Spaß noch.«
    Auf dieses Stichwort hin bewegte sich Kirsty auf sie zu.
    Im letzten Augenblick trat Julia einen Schritt zur Seite, um auch den flüchtigsten Körperkontakt zu vermeiden.
    »Schlaf gut«, sagte Kirsty, als sie die Stufen erreicht hatte.
    Doch sie erhielt keine Antwort aus den Schatten des Flurs.
    Julia schlief nicht gut. Weder in dieser Nacht, noch in irgendeiner der folgenden Nächte.
    Was sie im feuchten Zimmer gesehen hatte, was sie gehört hatte und schließlich was sie gefühlt hatte — war genug, um geruhsamen Schlaf auf ewig zu verbannen; oder zumindest begann sie das zu glauben.
    Er war hier. Bruder Frank war hier im Haus — und war es schon die ganze Zeit über gewesen. Ausgeschlossen von der Welt, in der sie lebte und atmete, doch nah genug, um schwachen, zaghaften Kontakt aufzunehmen, wie er es getan hatte. Für das Warum und das Wofür hatte sie keine Erklärung; das menschliche Wrack in der Wand hatte weder die Kraft noch die Zeit gehabt, seinen Zustand zu artikulieren.
    Alles was es sagte, bevor die Wand sich

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