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Das Tor Zur Hölle

Das Tor Zur Hölle

Titel: Das Tor Zur Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Leuchten von Tiefseefischen; blau, kalt, gefühllos. Es schoß Frank durch den Kopf, daß er sich nie gefragt hatte, wie sie wohl aussahen. Seine Fantasie, so fruchtbar sie auch sein mochte, wenn es um Betrügereien und Diebstahl ging, war in anderer Hinsicht eher unterentwickelt: Er besaß nicht die Fähigkeit, sich jene Eminenzen vorzustellen, also hatte er es erst gar nicht versucht.
    Warum war er dann so verstört, sie zu sehen? Waren es die Narben, die jeden Zentimeter ihrer Körper bedeckten; das kosmetisch punktierte, aufgeschnittene, geklammerte und dann mit Asche bestaubte Fleisch? War es der Vanillegeruch, der ihnen anhaftete, dessen Süße den darunterliegenden Gestank nicht zu verbergen vermochte?
    Oder war es die Tatsache, daß er, als das Licht stärker wurde und er sie eingehender mustern konnte, keine Freude oder auch nur Menschlichkeit in ihren verstümmelten Gesichtern ausmachen konnte: Nur Verzweiflung und einen gewissen Appetit, der in seinen Gedärmen den Wunsch aufkommen ließ, sich zu entleeren.
    »Welche Stadt ist dies?« erkundigte sich einer der vier.
    Frank hatte Schwierigkeiten, das Geschlecht des Fragenden zu erraten. Seine Kleidung, von der einige Teile sowohl an als auch durch seine Haut hindurch genäht waren, verbarg seine Geschlechtsteile, und es war nichts in den phlegmabehafteten Überresten der Stimme oder in seinen willentlich verstümmelten Zügen, das Frank den geringsten Hinweis gab. Wenn er sprach, wurden die Haken, die die Hautlappen an seinen Augen an ihrem Platz hielten und durch ein ausgeklügeltes, durch Fleisch und Knochen hindurchgeführtes System aus Ketten mit ähnlichen Haken in der Unterlippe verbunden war, von der Bewegung straffgezogen und legten das darunterliegende feuchtglänzende Fleisch frei.
    »Ich habe dich etwas gefragt«, sagte es. Frank gab keine Antwort. Der Name dieser Stadt war das letzte, woran er im Augenblick einen Gedanken verschwendete.
    »Hast du mich verstanden?« fragte die Gestalt neben dem ersten Sprecher barsch. Seine Stimme war im Gegensatz zu der seines Kameraden hell und gehaucht — die Stimme eines aufgeregten Mädchens. Jeder Zoll seines Kopfes war mit einem eintätowierten, verschlungenen Gitterwerk überzogen, und an jeder Schnittstelle der horizontalen und vertikalen Achsen war eine juwelenbesetzte Nadel durch den Knochen getrieben worden. Seine Zunge war auf gleiche Weise dekoriert. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wer wir sind?« fragte es.
    »Ja«, brachte Frank endlich heraus. »Ich weiß es.«
    Natürlich wußte er es; er und Kircher harten sich die Nächte damit um die Ohren geschlagen, über die Hinweise und Andeutungen zu diskutieren, die sie in den Tagebüchern von Bollingbroke und Gilles de Rais gefunden hatten. Alles, was der Menschheit vom Orden der Wunden bekannt war, wußte er.
    Und dennoch … hatte er etwas anderes erwartet. Hatte er irgendein Anzeichen der zahllosen, herrlichen Genüsse, zu denen sie Zugang hatten, erwartet. Er hatte gedacht, sie würden wenigstens Frauen mitbringen; eingeölte Frauen, eingecremte Frauen; rasierte, für den Liebekt bereite Frauen: Die Lippen parfümiert, die Schenkel zitternd darauf wartend, gespreizt zu werden, die Hintern prall, so wie er es mochte. Er hatte Seufzer erwartet und wollüstige Körper, die sich zwischen den Blumen wanden, die den Boden wie ein lebender Teppich überzogen; hatte jungfräuliche Huren erwartet, die ihm auf seinen bloßen Wunsch hin all ihre Reize darboten und deren Künste ihn — hinauf, hinauf zu nie erträumten Ekstasen trieben. In ihren Armen würde er die Welt vergessen. Er würde für seine Lust gepriesen, statt dafür verachtet zu werden.
    Aber nein. Keine Frauen, keine Seufzer. Nur diese geschlechtslosen Dinger mit ihrem zerfurchten Fleisch.
    Jetzt sprach das Dritte. Seine Züge waren so sehr vernarbt — die Wunden so lange offengehalten, bis sie sich schwartig aufwarfen —, daß seine Augen unsichtbar waren und seine Worte von den Verstümmelungen seines Mundes verzerrt wurden.
    »Was willst du?« fragte es ihn.
    Er musterte diesen Sprecher offener und selbstsicherer als die anderen beiden. Seine Furcht verebbte mehr und mehr mit jeder Sekunde, die verstrich. Die Erinnerungen an den furchteinflößenden Ort jenseits der Wand waren schon fast vollkommen verdrängt. Ihm blieben nur noch diese klapprigen, vom Verfall gezeichneten Dinger — mit ihrem Gestank, ihrer seltsamen Entstelltheit, ihrer offeichtlichen Gebrechlichkeit. Das einzige,

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